Nachdenkliches Debüt
Christof und Paul sind durch eine lange gemeinsame Kindheits- und Jugendzeit in einem kleinen Winzerdorf sowie ein tragisches Ereignis tief verbunden – nach Jahren, in denen sie sich aus den Augen verloren haben, treffen sie in Berlin wieder zusammen. In den Stunden diese Treffens, bei einem „großen Roten“ aus dem Weinkeller, lässt Markus Orths in seinem Roman-Debüt nun die Geschichte einer Freundschaft wieder auferstehen und leuchtet dabei die existentiellen Fragen von Sinn, Schuld und Liebe aus.
Spröde und sperrig kommt Markus Orths Prosa zunächst daher und gleicht sich damit seinem (Erinnerungs-) Sujet an: Der kleinen, beengten Heimat seiner Protagonisten, mit festen Traditionen, strengem Gottglauben und polternden Patriarchen. In einem düsteren Schuppen zelebrieren Christof und Peter hier ihre erste Messe mit geklautem Wein, alten Oblaten vom Weihnachtsgebäck und Moltofill-Weihrauch. Diese Messe ist Ausgangspunkt für jenes tragische Unglück, das Christof in ein langes Schweigen und in eine ungeheure Leere führt: „er war ganz leer, gab sich in die Leere hinein und glaubte an die Kraft dieser Leere.“
Nach Klosterschule, Theologiestudium und Kaplanstellen in einer kleiner Schwarzwaldgemeinde sowie in Freiburg lernt Christof bei einem Unfall Kai und Ina kennen und „man nähert sich“ – beginnt zu erzählen, beginnt das Leben voreinander auszubreiten „wie Kinder, die Decken ins Gras legen und sich ihre Spielsachen zeigen.“ Nun überdenkt Christof sein zielloses und fremdgesteuertes Sein, verlässt seine Kaplanstelle und bricht zu seinem alten Freund Paul nach Berlin auf. Hier wird deutlich, dass es nicht nur um Freundschaft und verdrängte Schuld, sondern um Liebe geht – und um eine Utopie, die sich den Traditionen und Erwartungen der Umwelt entzieht: „Ein Mensch, der sich selbst beschreibt und im Beschreiben erst findet.“
Markus Orths erzählt mit ebenso großer Behutsamkeit wie Nachdenklichkeit und steht damit der flüchtigen Leichtigkeit des Pops diametral entgegen. Auch wenn sein Debüt noch nicht das Bouquet eines ganz „großen Roten“ entfaltet und im Abgang etwas unrund scheint, so ist es doch allemal nachhaltiger als ein billiger Schaumwein.
Karsten Herrmann
Markus Orths: Corpus. Schöffling & Co 2002. Gebunden. 215 Seiten. 18,50 Euro. ISBN: 3-89561-094-1