Geschrieben am 14. Juni 2010 von für Bücher, Litmag

Markéta Pilátová: Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein

Nirgendwo ist Heimat, überall ist Heimat

Tschechien und Brasilien, bis auf den Wortausklang darf gerätselt werden über das Verbindende und das Trennende zwischen diesen beiden Ländern. Auf den ersten Blick liegt ein Ozean dazwischen. Erzählerisch gelassen umspannt die Tschechin Markéta Pilátová in ihrem Debütroman den Globus. Von Senta Wagner

Es riecht nach Prag, nach mythischen Orten auf der einen Seite des Ozeans, nach Exotik, nach Verheißung, nach Exil auf seiner anderen Seite. Zu Beginn des Romans entdeckt Marta die tote Frau Hrubešová in ihrer Wohnung, nachdem sie nicht wie in den vergangenen fünfzig Jahren zum Damenkränzchen im tschechischen Klub in São Paulo erschienen ist. Marta ist eine der vier Erzählerinnen. Sie ist –  wieder einmal – aus Prag zurückgekehrt oder angekommen in São Paulo, so genau weiß sie das nicht. Dort kümmert sie sich um ihre alte, aber fidele und in der Anthroposophie Halt suchende Mutter und die anderen scheintoten „Tanten“, die einst aus ihrer Heimat flohen. Seitdem suchen sie das Gefühl von Heimat in Brasilien. Eine „heimatliche Scholle“ verlässt man nie ohne Weh und Klage. Das war 1948, als der Kommunismus sich bereits in der Tschechoslowakei breit gemacht hatte. Und so schimpfen die rückkehrunwilligen Damen noch heute auf ihn.

Die 25-jährige Lena ist Erzählerin Nummer zwei nach drei Minikapiteln Marta und ebenfalls eine Nachfahrin tschechischer Auswanderer, mit jüdischen Wurzeln. Lena ist schnell erledigt, kurze Vorstellung: Echtes Cowgirl auf Mutters Rinderfarm, stilistisch unverkennbar Brasilianerin. Markéta Pilátová, denken wir bald, webt eine ordentliche Menge Handlungsfäden, mit denen sie gelassen den Globus umspannt, kenntnisreich die Zeit des Krieges und die anschließende bleierne Zeit sowie die Gegenwart anstimmt. Vorzüglich entfalten sich dabei ihr leichter, doch besonnener und vertraulich wirkender Ton, ihr dezenter Charme und ihr Witz.

Generationendrama

Marta und Lena kennen sich von früher aus São Paulo, jetzt begegnen sie sich wieder in Prag beim „Luft holen“, die Diktatur ist inzwischen gestürzt. Und wenn schon viele Fäden und gestrickte Verbindungen, dann ist es ein netter Einfall, dass auch die beiden mit selbst gestrickten Sachen ihr Geld verdienen, da gehen unzählige Wollfäden durch beider Hände.

Luiza strickt auch. Im Gegensatz zu Marta und Lena ist die dritte Ich-Erzählerin die Tochter deutscher Auswanderer in Brasilien. Das riesige Land fungierte damals als großes Auffangbecken von Menschen aus ganz Europa, die der Krieg und seine Folgen fortgetrieben haben. Noch heute hat die tschechische Gemeinde in São Paulo ungefähr 500 Mitglieder. Der Verstrickungen aber nicht genug: Luiza ist mit dem geheimnisvollen Doppelagenten und ehemaligen KZ-Häftling Yaromir verheiratet, ein- und derselbe aus Böhmen stammende Jaromír mit J wiederum war vor dem Krieg die große Liebe von Maruška. Maruška, die vierte Erzählerin, ist in Prag geblieben, als er wegging. Beide führen über Jahre hinweg einen Briefwechsel. Wenn überhaupt eine Hauptfigur benannt werden soll, dann ist es die mit der schwächsten Stimme, Yaromir. Von ihm sind wenige Briefe und Tagebucheintragungen bekannt. Seine Person wird dafür von den ausgelegten Fäden eingewickelt, an ihm bekommt das Generationendrama um Liebe, die Suche nach Heimat, Nazigräuel, Flucht und Exil ein besonderes Gewicht.

Der eng geführte Wechsel der Ich-Perspektiven, die Polyphonie des Romans, erweist sich dabei als künstlerisch halbwegs geglückt. Authentisch ja, aber zu ähnlich klingen die Stimmen von Marta und Lena, von Luiza und Maruška. Das mag auch das Fragmentarische des Romans ausmachen.

Zärtliches Origamifalten

Dann ist es so weit: Die Autorin zieht kräftig an den Strippen und lässt alle vier Erzählerinnen in Prag aufeinander los. Yaromir ist inzwischen tot. Luiza steht mit den überwältigenden Worten vor Maruškas Tür: „Jahrelang haben wir still und über riesige Entfernungen miteinander gekämpft, nie haben wir uns gesehen, und jetzt habe ich genug davon. Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein, wo er uns doch beide geliebt hat.“ Dieser Wir-Satz bildet den etwas umständlichen deutschen Titel. Gegensätzlicher könnten Maruška und Luiza aber gar nicht sein. Gemeinsam mit Marta und Lena als Dolmetscherinnen zwischen Sprachen und Lebenswelten verbringen die zwei jungen und die zwei alten Frauen Stunden um Stunden miteinander und reden losgelöst von jeglicher Nostalgie. Sie schenken sich Zeit, wer kann das noch? „Die Gespräche mit Luiza und Maruška haben bis heute den Beigeschmack von billigen brasilianischen Krimis aus der Vampiro-Reihe und Prags Finsternis.“ Die Alten wollen hinter das Rätsel Yaromir kommen, die Jungen setzen sich auseinander mit eigenen Krisen und dem Lebensgefühl als Emigrantenkinder, die keine Wahl hatten, stets unsicher hin- und herwackelnd zwischen den Heimaten Prag und São Paulo. „Ich wäge Paulo und Prag gegeneinander ab, lege beide auf eine gedachte Waage. Und auf einmal sind sie im Gleichgewicht.“ Zärtlich falten die vier Origami als Symbol ihrer erwachenden Solidarität und Freundschaft, wie hübsch. Eine feierliche Ruhe legt sich über den Roman.

Senta Wagner

Markéta Pilátová: Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein (Zluté oci vedou domu, 2007).
Aus dem Tschechischen von Michael Stavaric.
Residenz Verlag 2010. 208 Seiten. 19,90 Euro.