Geschrieben am 10. Dezember 2007 von für Bücher, Litmag

Mark Z. Danielewski: Das Haus

Das Buch ist der Film

Das Haus ist ein gigantischer Lesegenuss mit erschreckenden Elementen, eine wahre Fundgrube für Text- und Zwischentextschnüffler, ein potentielles Betätigungsfeld für Arno Schmidt-Jünger ebenso wie für Filmfans. Von Frank Schorneck

Vor ein paar Jahren fiel mir in einer Londoner Buchhandlung durch Zufall ein wuchtiges Paperback in die Hände, das ich umgehend haben musste: Kreuz und quer tanzen die Buchstaben über die Seiten, stehen mal auf dem Kopf, füllen die Seiten bis zum Bersten oder verstecken sich in den Ecken. Kurzum, das Schriftbild erinnerte mich an postmoderne Romane von Raymond Federman oder Ronald Sukenick, auf dem Cover versprach niemand Geringerer als Bret Easton Ellis eine atemraubende Lektüre und auf einer der ersten Seiten steht schlicht der Satz: „This is not for you.“ Wie Blaubarts Zimmer übte dieses Buch einen besonderen Reiz auf mich aus – doch bei aller Faszination fehlte dann schließlich doch die Zeit, diesen Roman im Original zu lesen. Er verschwand im Bücherregal und wanderte auf die Liste jener Bücher, die ich unbedingt mal im Urlaub lesen müsste. Dort ist es nie ganz in Vergessenheit geraten, aber eben auch nicht wieder zurück in meine Hände.

Bis in diesem Herbst tatsächlich eine deutsche Übersetzung in den Handel kam. Christa Schuenke, die zahlreiche Romane des großartigen John Banville übersetzt hat und der wir auch eine formidable Neuübertragung von Gullivers Reisen zu verdanken haben, hat sich an dieses verschachtelte Gebilde gewagt und dabei Großes geleistet.

Das Haus ist zunächst ein Roman im Roman: Anonyme (fiktive) Herausgeber veröffentlichen die Notizen eines fiktiven Menschen. Doch der 1966 geborene Mark Z. Danielewski hat die Verschachtelung seines Romandebüts weitaus komplexer angelegt: Der Mittzwanziger Johnny Truant findet in der Wohnung eines Toten mit Namen Zampanò (!) eine Kiste mit dessen Aufzeichnungen. Diese stellen sich als Material zum filmischen Werk des Pulitzer-Preisträgers Will Navidson heraus. Der Fotograf Navidson hat zunächst nur geplant, den Umzug seiner Familie in ein neues Haus, die Rettung einer angeknacksten Beziehung mittels Tapetenwechsels filmisch zu dokumentieren. Dabei entdeckt er jedoch unerklärliche architektonische Verschiebungen: Das Haus hat größere Innen- als Außenmaße …

Danielewski begnügt sich allerdings nicht mit dem bloßen Verschachteln der Erzählebenen, er treibt auch gleich noch das Element des unzuverlässigen Erzählers auf die Spitze: Johnny ist psychisch labil und diversen Drogen nicht abgeneigt, Zampanò (der über den Film schreibt) ist blind (!) – und das Medium Film selbst bietet mittels Schnitttechnik ebenfalls hinreichend Manipulationsmöglichkeiten. Mal ganz abgesehen davon ist das Buch gespickt mit weit über 400 teils seitenlangen wissenschaftlich anmutenden Fußnoten, deren Quellen zum Teil real, zum Teil fiktiv sind. Großartig sind zum Beispiel Stimmen realer Prominenter wie Stephen King, Stanley Kubrick, Camille Paglia oder David Copperfield zu Zampanòs „Navidson Record“.

Tanzende Typographie

Durch dieses Labyrinth führen gleich mehrere Handlungsfäden, und es ist schier unmöglich, diese im Rahmen einer bloßen Rezension anzuführen. Wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Roman werden sicherlich nicht lange auf sich warten lassen. Daher sei hier nur das zentrale Motiv des „Navidson Record“ genannt, jener Film, mit dem Will Navidson die Erforschung seines Hauses dokumentiert. Das Wort „Erforschung“ ist hierbei durchaus wörtlich zu nehmen: Was sich zunächst als ein im Grundriss nicht erklärlicher und physikalischen Gesetzen widersprechender Flur auftut, führt immer tiefer ins Erdinnere, sprengt jegliche Dimensionen. Man muss sich die absurde Situation bildlich vor Augen führen, wie eine Gruppe Männer im Wohnzimmer ihr Lager aufschlägt und Material und Vorräte für die Erkundung eines Flures zusammenträgt, für die mehrere Tage veranschlagt werden. Dass diese aberwitzige Situation nicht lächerlich wirkt, ist eine großartige Leistung des Autors. Im Gegenteil: Die Exkursion in das Innere des Hauses nimmt wahrlich düstere und bedrohliche Züge an. Vergleiche mit dem pseudodokumentarischen Blair Witch-Project drängen sich auf, wogegen eines der zahlreichen literarischen Vorbilder bei H. P. Lovecrafts Arkham-Zyklus zu suchen wäre.

Insbesondere bei der Schilderung dieser Expedition bringt Danielewski die Typographie zum Tanzen. Wie die Wände des schier unermesslichen Labyrinths, das sich den Forschern auftut und organisch auf die Eindringlinge zu reagieren scheint, verschieben sich auch Sätze und Absätze auf den Seiten. Auf manchen wird das Schriftbild nahezu illustrativ, wenn zum Beispiel der Flur immer schmaler wird und sich gleichzeitig die Zeilenbreite zusammenzieht, zieht allein die Optik den Leser immer stärker in das Buch hinein. Es gibt Seiten, auf denen nur ein einziges Wort oder gar nur ein Buchstabe steht. Durch die Seitenumbrüche werden Filmschnitte suggeriert (allerdings nicht synchron zu den Schnitten im „Navidson Record“). Gleichzeitig manipuliert Danielewski mit dieser Technik das Lesetempo. Nach jedem Umblättern müssen die Augen aufs Neue den weiterführenden Text finden, sie irren über die Seiten wie die Forscher durch die Dunkelheit des Hauses.

Der pseudodokumentarische Film im Buch ist also ein Horror-Element mit absurd-komischen Zügen. Die Fußnoten hingegen können (als eine Lesart von vielen) als Parodie auf wissenschaftliche Abhandlungen interpretiert werden, geben andererseits noch Informationen, die das „Gesehene“ in einem anderen Blickwinkel erscheinen lassen. Außerdem ermöglichen die Fußnoten die zumindest einseitige Kommunikation zwischen Zampanò und Johnny, wenn etwa Zampanò dort eine Formel zur Berechnung von Entfernungen aufstellt, die in der folgenden Fußnote wiederum von Johnny korrigiert wird, was er aber seinerseits nicht zu Ende ausführt, weshalb in einer dritten die „Hrsg.“ anmerken, dass diese zweite Fußnote nicht vervollständigt wurde.

An manchen Stellen tritt Danielewskis schwarzer Humor auch sehr offen zutage, wenn die Herausgeber beispielsweise anmerken: „Vermutlich hat Zampanòs Blindheit ihn davon abgehalten, tatsächlich ein Diagramm der Delial-Fotografie zu erstellen.“

Gigantische Fundgrube für Text- und Zwischentextschnüffler

Dass es in Das Haus um weit mehr geht als nur um ein mysteriöses Gebäude, ist offensichtlich. Das Labyrinth im Inneren des Hauses steht auch für die menschliche Seelenlandschaft. So hat die Figur des Will Navidson durchaus ein reales Vorbild, wie man an der Beschreibung seines pulitzerpreis-gekrönten Fotos feststellen kann. Darauf zu sehen ist ein verhungerndes sudanesisches Kind, hinter dem bereits ein Geier lauert. Für dieses Foto erhielt der südafrikanische Fotojournalist Kevin Carter den Pulitzer-Preis – zwei Monate, bevor er sich das Leben nahm. Auch Navidson hat für diese Aufnahme in die eigene Hölle geblickt.

Noch ganz außer Acht gelassen bleibt bei dieser Rezension das Schicksal des Johnny, das allein anderen Autoren Stoff für zwei Bücher geboten hätte. Im Stil Hunter S. Thompsons deliriert sich Johnny durch seinen Alltag zwischen dem Tattoo-Studio, in dem er arbeitet, Drogen, Frauen und Gewalt. Ein Teil seiner tragischen Geschichte erschließt sich allerdings erst durch die Lektüre des Anhangs. Dieser umfasst Briefe von Johnnys Mutter aus der Irrenanstalt (was allein 60 Seiten des Anhangs ausmacht) sowie Skizzen, Polaroids, Gedichte, „Beweismittel“ und „Gegenbeweise“.
Das Haus ist ein gigantischer Lesegenuss mit erschreckenden Elementen, eine wahre Fundgrube für Text- und Zwischentextschnüffler, ein potentielles Betätigungsfeld für Arno Schmidt-Jünger ebenso wie für Filmfans. Danielewski zählt zu seinen Vorbildern auch Laurence Sterne und so gibt es vom Original des Buches auch eine vierfarbige Ausgabe, in der das Wort „Haus“ blau geschrieben ist (was Klett-Cotta übrigens in der deutschsprachigen Ausgabe übernommen hat) und die „gestrichenen Passagen“ rot erscheinen. Vor allem aber eine Seite in Braille-Schrift dürfte als Verbeugung vor der schwarzen und der marmorierten Seite im Tristram Shandy zu werten sein.

Es ist Christa Schuenke hoch anzurechnen, dass sie sich für die deutschsprachigen Leser durch dieses Labyrinth hindurchgearbeitet hat, die unterschiedlichsten Sprachebenen (Johnnys Straßenslang, Zampanòs gestelztes Wissenschaftsgetue und die unterschiedlichsten Fußnotenquellen) kongenial übertragen hat. Nur warum sie die Seite 666 (offenbar kein absichtlicher satanistischer Verweis, in meiner englischen Paperback-Ausgabe ist es die Seite 564 – aber man traut es dem Autor zu, die Seitenzahlen mathematisch strukturiert zu haben) aus dem Französischen (ein Text mit der Überschrift „La Feuille“) ausgerechnet in Otjiherero übertragen lassen musste, eine Bantusprache, die nur noch von 150.000 Menschen gesprochen wird, setzt diesem an Rätseln beileibe nicht armen Buch noch ein weiteres hinzu.
Kauft dieses Buch auf keinen Fall. Es ist nicht für euch …

Frank Schorneck

Mark Z. Danielewski: Das Haus. Deutsch von Christa Schuenke. 827 Seiten. Klett-Cotta 2007. 29,90 Euro.