Geschrieben am 19. September 2012 von für Bücher, Litmag

Marjana Gaponenko: Wer ist Martha?

Verdunkelungsgefahr?

Joe Paul Kroll über Marjana Gaponenkos zweiten Roman, der eine literarische Hommage an die Romantik versucht.

Torten brechen Lewadski das Herz. An Torte erinnert er sich noch im Sterben: Wie er einst durch die Fensterscheibe eines Cafés die angebetete sah, Torte essend, in Begleitung eines Andern, und daraufhin nicht sein Herz, aber doch seinen Mageninhalt auf den Gehsteig ausschüttete. Wie, Jahre später, in Odessa eine Möwe mit seinem Tortenstück davonflog und ihm eine Enttäuschung beibrachte, die ihn sein Leben lang begleiten sollte.

Lewadski hielt zwar seitdem Abstand zu den Frauen, blieb aber den Vögeln treu: Luka Stepanowitsch Lewadski, Professor Emeritus der Zoologie mit Spezialgebiet Ornithologie, wohnhaft in der Ukraine. Mit 96 Jahren erhält er schlechte Nachrichten von seinem Arzt und fasst den Entschluss, seine letzten Wochen nicht der Chemotherapie zu widmen, sondern seine Ersparnisse in einem Wiener Grandhotel zu verzehren und dort in Komfort dahinzuscheiden.

Das ist, unter den Umständen, ein plausibler Plan, den Marjana Gaponenko den Protagonisten ihres zweiten Romans fassen lässt. Wer aber ist dieser Lewadski? Jahrgang 1914, damit beinahe so alt wie möglich, geboren noch im Habsburgerreich – Lewadski ist ein Relikt aus vergangener Zeit, doch aus welcher? In manchem schroff, dann wiederum von ausgesuchter Höflichkeit, ist er keine Karikatur eines Kavaliers alter Schule. Ein Kind des langen 19. Jahrhunderts, ist seine Gestalt vielleicht als die eines späten Repräsentanten des naturwissenschaftlich-positivistischen Geistes angelegt. Hierfür gibt es zwar nur Indizien, diese führen aber möglicherweise zu dem, was die Idee dieses Romans ausmacht – oder besser: zu seiner Problematik.

Den Weg weisen die zwei Zitate, die dem Buch vorangestellt sind: Ein Lob der Vögel von Thoreau, und eine Briefstelle von Georg Forster, in der vor der „Tyrannei der Vernunft“ gewarnt wird. Folgen wir diesem letzteren geradewegs zum entscheidenden Kapitel „4 – Zimmer / Room 401/441“ (dies ist nicht das vierte Kapitel, denn die Kapitelzählung folgt eigenen Regeln). Lewadski hat im Hotel Imperial Bekanntschaft geschlossen mit dem kaum weniger greisen Herrn Witzturn. Zusammen ergeben die Beiden mitnichten das nörgelnde Duo Statler & Waldorf aus der „Muppet Show“ (wie uns der Klappentext suggerieren will). Eher ist Witzturn eine Gestalt, an deren Erscheinen sich Wunderbares knüpft, ein Kobold oder Dämon.

Eine Theater-, genauer: Konzertsaalszene mit den beiden ist gerade zu Ende; die beiden zieht es zur Hotelbar. Der Strom ist ausgefallen, und das Kerzenlicht bricht sich in den Flaschen und Spiegeln hinter der Theke. Es beginnt, was man nach Hoffmann wohl den „Fall ins Kristall“ nennen darf: Im Ausnahmezustand, dem Ausfall der modernen Errungenschaft der Elektrifizierung, in Schummerlicht und Alkoholdunst, verliert die Realität ihre Konturen. Lewadski scheint zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit, Traum, Phantasie und Wachen hin und her zu wechseln.

Explizit wird die Bezugnahme auf die Romantik in Witzturns Äußerung, ein neoromantisches Zeitalter werde die Aufklärung hinwegfegen. Lewadski wirft an dieser Stelle die Wendung vom „Terror der Vernunft“ ein. Die Metapher, die Licht mit der Wahrheit gleichsetzt, wird noch in dem Augenblick widerlegt, da die Aufklärung, die vom Stromausfall suspendiert wurde, wieder einsetzt:

„Wir haben Licht!“ Die Stimme des Barmanns klingt heller, als sie ist.
Wie schade, denkt Lewadski, jetzt, wo ich endlich klar zu denken glaube.

Das sind potente Symbole, doch darf man sie allzu ernst nehmen, in sie gar eine Parteinahme der Autorin für die Gegenaufklärung hineinlesen? Das verbietet sich zum einen aus grundsätzlichen Überlegungen heraus, zum anderen aber aus dem fragwürdigen Status der Figur Witzturn. Eine namenlose Russin erscheint an der Bar und spricht zum Barmann (der in dieser Walpurgisnacht als Zeremonien- oder Hexenmeister fungiert):

„So wichtig sind die Cocktails für den Roman auch nicht. […] Viel wichtiger sind die Gespräche an der Bar, die mein Held zu führen glaubt. Die Wahrscheinlichkeit ist doch sehr hoch, fürchte ich, dass es niemanden gibt, der sich mit diesem hochbetagten Mann unterhält. Ich persönlich wünschte, mein Held wäre nicht allein. Aber es wäre zu einfach.“

Zu einfach wäre es auch, diese rätselhafte Trinkerin mit der Autorin zu identifizieren. Sie steht jedoch für diese allemal insofern ein, als sie den Zweifel am Geschilderten sät. Das Spiel mit dem Fantastischen ist eine literarische Hommage an die Romantik. Eine Nebenwirkung dieser Methode, die sich auch neuerer Effekte bedient, ist jedoch, dass die Frage nach der inneren Logik des Romangebildes erschwert wird. Wenn man aber schon nicht die politischen Implikationen solcher Aufklärungskritik in den Vordergrund stellen will, dann stellt sich doch die Frage, ob und warum Lewadski ein Mensch ist, dem solche Ereignisse widerfahren. Als Korrektur einer vermeintlich naturwissenschaftlichen Borniertheit sind diese Erlebnisse eben nicht zu verstehen. Lewadski ist kein Vertreter dieser Zunft, dem das Gefühl des Wunders, der liebevolle Bezug zu seinen Objekten abgeht: Die Schilderungen seiner Kindheit und Jugend legen das Gegenteil nahe.

Ernüchternd wäre der Schluss, es handele sich hier selbst um eine naturwissenschaftliche Phantasie. Es liegt schon eine gewisse Ironie in dem Umstand, dass es eine nach einem Tier benannte Krankheit ist, der Lewadski zur Strecke bringt. Sollte alles – oder vieles? was? – nur Halluzination sein, geschuldet dem Krebs, dessen Metastasen auf das Gehirn übergegriffen haben?

In einem Roman wie diesem dürfen, ja müssen Fragen wie diese offen bleiben. Die Pflicht zur psychologisch folgerichtigen Ausgestaltung der Figuren greift hier, wo jedem Anspruch auf Realismus von Vornherein implizit abgeschworen wird, nicht. Die Gleichgültigkeit, die leichte Irritation mithin, welche die Lektüre von „Wer ist Martha?“ zurücklässt, mag denn auch Geschmacksfrage sein, geschuldet einem leichten Widerwillen gegen das Fantastische.

Zu Erwähnen wäre außerdem eine Neigung zu einer Sprachmanier, die den bewussten Anklang ans Märchen sucht. Mit der häufigen Nennung von Tiernamen und der Verwendung von Metaphern und anderen Gleichnissen aus dem Tierreich wird eine Renaturierung, mithin eine Wiederverzauberung der Welt versucht. Dieser Stil schlägt bisweilen in etwas um, das ich nur als cuteness bezeichnen kann, aber doch den nachvollziehbaren Zweck erfüllt, eine kindlich-naive Grundstimmung zu simulieren. Das mag man als literarischen Effekt schätzen oder schlicht irritierend finden. Diesen Roman wird wohl nur genießen, wer sich vorbehaltlos auf das Spiel der Autorin einlassen kann.

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Noch eine Bemerkung zum – oder besser: nach – Schluss: Als Rezensent hat man Umschlagtexte zu ignorieren. Dieses ungeschriebene Gesetz hat eine gewisse Berechtigung, ist aber mit Blick auf die zahlenden Leser widersinnig, da die Verlage mit diesen Texten die Kaufentscheidung und so mittelbar auch die Rezeption ihrer Erzeugnisse beeinflussen wollen. Der Rezensent hat hier die Möglichkeit, korrigierend einzugreifen. Daran, dass solche Paratexte häufig in einer losen, eher zufällig anmutenden Beziehung zum vermeintlichen Bezugsprodukt stehen, hat man sich vielleicht schon gewöhnt, und es ist auch hier der Fall, wenn darüber fabuliert wird, es „rekapitulier[t]en“ die zwei alten Herren „das mörderische vergangene Jahrhundert“. Es versteht sich von selbst, dass diese Kritik nicht der Autorin gilt, die den Text ja nicht geschrieben haben wird. Dass ich sie überhaupt für notwendig halte, liegt in diesem Fall an der haarsträubenden Schlechtigkeit des Klappentexts. Stehen auf die Wendung „wunderbar kühner Roman“ fünf Mark ins Phrasenschwein, sollte die Strafe für „ganz großes Kino“ schon deutlich höher ausfallen. Die Aussage schließlich, „dass sich selbst noch der Tod darüber [sc. den Roman] kaputtlacht“, lässt mich ratlos zurück.

Joe Paul Kroll

Marjana Gaponenko: Wer ist Martha? Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2012. 237 Seiten, 19,95 Euro. Zur Homepage der Autorin

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