Mit Terror gegen den Terror?
Sind Sie zwischen 19 und 40 Jahren, männlich, kennen einen, der einen kennt, der eventuell ein Auto abgefackelt hat? Und haben Sie bei Google schon mal das Wort „Gentrifizierung“ nachgeschlagen? Mit etwas Pech finden Sie sich dann eines Morgens von maskierten Männern mit Maschinenpistolen aus dem Bett gezerrt und gefesselt wieder. Und landen erst mal in Isolationshaft. Denn dann sind Sie in eine Rasterfahndung geraten, das kann passieren. Ein „präventiver Zugriff“ eines Spezialeinsatzkommandos nach langer Observierung, worauf „präventive Freiheitsentziehung“ erfolgen kann, ist weder Ausnahme noch Einzelfall, schreibt Marita Neher in ihrem Buch „Albtraum Sicherheit“. Lena Blaudez hat sich durch unschöne Realitäten gewühlt.
Geahnt hat man es, aber noch nicht so aufgearbeitet, begründet und in Zusammenhänge gestellt: Seit die Twin Towers zerstört und mit ihnen 3000 Menschenleben ausgelöscht wurden, seitdem ist vieles nicht mehr so wie es einmal wahr. Im Vorwort betont Marita Neher, dass sie keinerlei Richtung, Religion oder Gruppe anhängt, sondern nur eine ganz normale Anhängerin von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sei. Im Laufe der Recherchen zum Buch musste sie allerdings feststellen, dass ihre Sicht der Dinge erschreckend naiv war. Allein der Grundsatz, dass ein Mensch für unschuldig gilt, bis das Gegenteil bewiesen ist – Grundprinzip der Rechtsstaatlichkeit – sei ausgehebelt, sobald jemand des Terrors verdächtigt wird.
Unabhängige Berichterstattung? Fehlanzeige!
Wie hoch ist der Preis der (immer nur vermeintlichen) Sicherheit? Wie viel erfahren Zeitungsleser und Nachrichtenseher? Und was alles nicht?
Um das herauszufinden, interviewte Marita Neher vom Präsidenten von Europol über Vertreter des Innenministeriums, der Kriminalpolizei und des Verfassungsschutzes bis hin zu Verdächtigen, potentiellen Terroristen, ehemals Inhaftierten und deren Anwälte viele Menschen, die mit Terrorbekämpfung zu tun haben. Und auch einige, deren Namen sie nicht nennen darf, weil die Konsequenzen fürchten müssen.
Eindringlich zeichnet Neher an Hand von Fall-Beispielen ein Bild davon, was der Kampf gegen den Terror und die damit einhergehende Gesetzesänderung für jeden Einzelnen heißen kann. Denn seit 2001 wurden oft sehr flott Gesetze erlassen, die nicht unbedingt an die große Glocke gehängt wurden und die vieles bisher als rechtsstaatlichen Grundbestand Verstandenes verändert haben. Neue Gesetze implizieren unter anderem, dass der Verfassungsschutz und die Polizeibehörden fast unbegrenzten Zugriff auf persönliche Daten haben können, egal, ob von Post, Bank oder Telekom – ohne, dass der Betroffene davon erfährt oder ein Richter das genehmigt. Übrigens auch ohne konkreten Anfangsverdacht.
Davon lesen wir eher selten in der Zeitung. Die Medien spiegelten in der Regel die behördliche Sicht auf die Dinge, schreibt Neher, und übernähmen nicht nachgeprüfte „Informationen“ und bestimmte Sichtweisen. Die Einschätzung von Menschen und Gruppierungen und die Wertung der Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren werden durch eine solche Berichterstattung geprägt. Eine unabhängige Berichterstattung über Terrorgefahren und Anti-Terror-Kampf gäbe es aber nicht. Verständlich, schließlich ist der Geheimdienst ja auch geheim. Andererseits lässt sich mit Angst auch gut Auflage machen.
Neueste Überwachungstechnik bei Demos
Die Autorin beschreibt, wie schnell man verdächtig werden kann, bewegt man sich auch nur im Umfeld von linken Aktivisten, die gegen überteuerte Wohnungen demonstrieren, oder von Umweltschützern, die sich gegen genmanipulierte Nahrungsmittel zu Wehr setzen. Kameras aus Hubschraubern oder Drohnen beobachteten Menschen „deren Meinungen und Aktivitäten mit der ‚offiziellen‘ Politik- und Wirtschaftspraxis nicht übereinstimmen – und die jedes Recht haben, ihre ‚Abweichung‘ offen zu artikulieren“. Natürlich gelte das auch für Verdächtige im rechtsextremen Umfeld … Allerdings ist die Effizienz und Sinnhaftigkeit der Geheimdienstarbeit seit der „Zwickauer Terrorzelle“ zunehmend in der der Kritik. Gefährlich sei besonders, führt die Anwältin und Verfassungsrichterin Angelika Lex, die im Buch zitiert wird, aus, dass immer mehr Menschen, vor allem muslimischen Glaubens, unter Generalverdacht gestellt werden.
Einmal ins Netz der Sicherheitsbehörden geraten, wird es für Betroffene noch beunruhigender, denn bei Verfahren im Anti-Terror-Kampf würden die Richter zunehmend vom In- und Auslandsgeheimdienst gesteuert, weil fast alle Informationen aus deren Quellen kommen und daher nicht nachprüfbar sind.
Definitionsmacht der jeweils herrschenden Ordnung
Die Definition des Wortes „Terrorist“ wird von der bestehenden Ordnung festgelegt, sie ist keine juristische Kategorie, sondern eine politische. Im Namen von Sicherheit und Freiheit bedeute das heute: Abbau demokratischer Grundrechte in Europa und den USA und Verletzungen von Menschrechten bis hin zur Folter. In einem Bericht des UN-Sonderberichterstatters für Folter, Manfred Nowak, von 2010 wird belegt, „dass 66 Staaten an einem weltumspannenden Netzwerk geheimer Haftanstalten und Verhörzentren sowie an verdeckten Transfers von Häftlingen in nicht gekennzeichneten Flugzeugen beteiligt waren“. Der politische Wille fehle, so Nowak, die Menschenrechte tatsächlich ernst zu nehmen. Der „Patriot Act 1“ in den USA 2001 verabschiedet, wurde bis 2015 verlängert, in dem auch festgeschrieben ist, dass die Genfer Konvention im Zusammenhang mit Terrorverdacht nicht mehr gültig sei. Wenn sich der Rechtsstaat im Kampf gegen den Terrorismus selbst liquidiert, haben die Terroristen gewonnen – so zitiert Neher den Schweizer Soziologen Jean Ziegler.
Angst sells – ein Zukunftsmarkt mit Wachstumspotential
Der Untertitel des Buches lautet: „Interessen und Geschäfte der Sicherheitspolitik“. Die Sicherheitsbranche boomt, ihr Jahresumsatz beträgt drei Milliarden Euro. Dass das Thema Sicherheit seit 2001 ein Wirtschaftszweig ist, aus dem zunehmend Profit geschlagen wird, macht Neher an einer Reihe von europäischen Forschungsprojekten, Einrichtungen und Gremien, ausgestattet mit zig Milliarden Euro deutlich, in denen sich Lobbyisten der Industrie tummeln, und wo gerne auch über die Vergabe von Mitteln von denen entschieden wird, die sie selbst betreffen. Drei Jahre etwa forschten Tübinger Wissenschaftler, ob der Einsatz des Körperscanners ethisch vertretbar sei. Sie kamen dann 2011 zu dem Ergebnis, dass man das so einfach nicht sagen könne und erhielten weitere zig Millionen Forschungsgelder. Drohnen werden seit 2007 an die Bundewehr geliefert und auch von der Polizei zunehmend eingesetzt. Die DIEHL Stiftung & Co. KG, ein Hersteller von Drohnen, sitzt seit Jahren in den wichtigsten Beratungsgremien, die die europäische Sicherheitspolitik festlegen. Zufall?
Kontrolle?
Die Autorin konstatiert besorgt: Unsere Zukunft wird hinter geschlossenen Sicherheitstüren geplant. Wie viel Kontrolle über uns können wir zulassen und wie wenig Kontrolle haben wir über das Geschehen?
In dem Buch ist öfter von „über das Ziel hinausschießen“ die Rede. Es zeigt eine bedrohliche Entwicklung unserer Gesellschaft, wo nicht nur aus Schutzbedürfnis, sondern auch aus Bürokratismus, aus kommerziellen Interessen oder zum Nachweis der Existenzberechtigung des gigantischen Antiterror-Apparates gravierende Einschränkungen der Grundrechte gerechtfertigt werden. Natürlich muss Terrorismus bekämpft werden. Neher warnt davor, dass, wenn Prävention zur Voraussetzung für Sicherheit wird, eine Unterwerfung unter die politische Vorstellung von Sicherheit und damit opportunes Verhalten eingefordert wird. Dass demokratische Grundrechte schleichend ausgehöhlt werden. Ist es ein „… Wettkampf zwischen Staatsmacht und Bürgerrechten, bei dem es am Ende, wie bei jedem Wettkampf, auch einen Verlierer geben wird“? Profiteure sowieso.
Keine Hysterie
„Albtraum Sicherheit“ ist ein wichtiges Buch, das keine schrillen Sensationen verkündet, sondern auch solchen Leuten die Sachlage nahe bringt, die sich sonst eher mit einem „Wer nichts getan hat, hat auch nichts zu befürchten“ beruhigen. Denn eins wird deutlich: Es besteht Anlass zu Befürchtungen. Dass man morgens im Bett von maskierten Männern Maschinenpistolen vorgehalten bekommt, ist nur eine davon. Eine Lösung der Frage, wie staatliche Sicherheitspolitik und individuelle Freiheit in Einklang gebracht werden können – und ob überhaupt – erfahren wir auch in diesem Buch nicht. Dafür führt es uns die Gefahr, im Namen der Terrorbekämpfung das Grundprinzip der Demokratie zur Disposition zu stellen, deutlich vor Augen. Um auch in Zukunft in einem Land mit demokratischen Werten leben zu können, fordert Marita Neher politisches Denken und Handeln jedes Einzelnen ein.
Marita Neher ist Buchautorin, Produzentin und Dokumentarfilmerin. Für ihre Dokumentationen u. a. für Arte über globalen Terror und Krieg dreht sie in der DR Kongo, Afghanistan, Kambodscha und Myanmar.
Auf onlinefilm.org kann man den Film „Freiheit und Sicherheit. Der Anti-Terrorkampf und seine Folgen“ sehen, den sie zusammen mit Nils Bökamp zum 10. Jahrestag der Attentate von 9/11 gedreht hat.
Lena Blaudez
Marita Neher: Albtraum Sicherheit: Interessen und Geschäfte hinter der Sicherheitspolitik
. S. Fischer Verlag 2013. 240 Seiten. 14,99 Euro. Foto Neher: Claudia Zweifel.
Zur Homepage von Lena Blaudez.