Geschrieben am 7. Mai 2007 von für Bücher, Litmag

Marisha Pessl: Die alltägliche Physik des Unglücks

Flirrend und farbenprächtig wie ein Kolibri

In ihrem Debüt „Die alltägliche Physik des Unglücks“ erzählt die 30-jährige Marisha Pessl auf sprachlich überschäumende und formal ungewöhnliche Weise eine etwas andere Geschichte vom Erwachsenwerden.

Nach dem frühen Tod ihrer Mutter zieht Pessls Protagonistin Blue mit ihrem Vater, einem renommierten Politikwissenschaftler, von Provinz-Uni zu Provinz-Uni und verbringt so „genauso viel Zeit in dem blauen Volvo wie im Klassenzimmer“. Ihr einziger Anker und einziges Bezugssystem ist die unendliche Welt der Literatur von Homers Odyssee über unbekannte Avantgarde-Lyriker bis zu hochspeziellen wissenschaftlichen Fachartikeln.

Ihr letztes Highschool-Jahr verbringt die genialisch veranlagte Blue am Gallway-College in North Carolina. Hier lernt sie die ebenso charismatische wie geheimnisvolle Lehrerin Hannah kennen und findet Zugang zu der exzentrisch-elitären „Bluebloods“-Clique. Bei einem gemeinsamen Campingausflug geschieht das Unfassbare: Hannah kommt auf mysteriöse Weise ums Leben. Blues hartnäckige Recherchen führen in das Herz einer Verschwörung: „Ich hatte schon immer gewusst, dass in ihrem Schatten etwas Großartiges und Groteskes lebte, und jetzt war es endlich da, kroch zentimeterweise aus dem Dunkel.“

Buntes Zeichen- und Verweissystem

Marisha Pessls Prosa ist so flirrend und farbenprächtig wie ein Kolibri inmitten eines üppigen Blütenmeers. Betörend lässt sie Kaskaden von adjektivgesättigten Metaphern aus den Seiten hervorströmen und baut auf geradezu enzyklopädische Weise ein buntes Zeichen- und Verweissystem aus unzähligen Zitaten, Assoziationen und Namedroppings auf. Mit sinnlicher Lust und intellektuellem Esprit spielt Pessl ausschweifend und sprachverliebt das postmoderne Spiel der Intertextualität – und erliegt auf der 600-Seiten-Strecke ihres Romans phasenweise der Gefahr, den Faden der Geschichte aus den Augen zu verlieren und ins Uferlose abzudriften.

Doch im letzten Viertel nimmt dieser erstaunliche Roman dann noch einmal richtig Fahrt auf und die hochtalentierte Marisha Pessl führt ihn mit einem Sprachfeuerwerk zu einem ebenso überraschenden wie klug konstruierten Höhe- und Endpunkt.

Karsten Herrmann

Marisha Pessl: Die alltägliche Physik des Unglücks. Aus dem Amerikanischen von Adelheid Zöfel. S. Fischer 2007. 600 Seiten. 29,90 Euro.