Geschrieben am 10. Mai 2010 von für Bücher, Litmag

Maike Albath: Der Geist von Turin

Die Macht der Wörter: Ein Rückblick nach vorn

Was bewirkt Literatur? Einst traute man ihr eine Menge zu, nördlich und südlich der Alpen. Heute dominieren die pessimistischen Töne. Auch die hier erzählte Geschichte aus dem Piemont hat kein strahlendes Happy End. Aber so, wie sie uns aus diesem Buch entgegen tritt, verbreitet sie Licht und macht Mut, findet Gisela Trahms.

Irgendwann öffnet der wahre Italienliebhaber sein Auge den Städten, die mehr sind als ihre eigenen Museen. Turin beispielsweise: Barockstadt am Ufer des Po, erste Hauptstadt des vereinten Italien, Industriemetropole, Heimat der Fiat-Werke und zweier ruhmreicher Fußballvereine. Und für ein paar Jahrzehnte der Schauplatz eines utopischen Projekts, das immer noch fasziniert.

Geboren wurde es wie alles, was in Italien etwas bewegt, aus persönlichen Beziehungen. Eine Handvoll sehr junger Leute (Leone und Natalia Ginzburg, Cesare Pavese, Giulio Einaudi, Norberto Bobbio, Carlo Levi) fasste den Vorsatz, das Land zu verändern – durch Bücher. Gegen den herrschenden Faschismus gründete Einaudi 1934 einen Verlag, der für die Mitarbeiter nicht nur Arbeitgeber, sondern Lebensform wurde. Man gab Zeitschriften und Buchreihen heraus, fungierte als Lektor und Kritiker, traf sich wöchentlich zu den berühmten „Mittwochskonferenzen“, verfasste wie nebenbei bedeutende Romane, Tausende von Briefen, Stellungnahmen zu politischen Ereignissen – kurz, die „Einaudianer“ machten Literatur in jenem umfassenden Sinn des Wortes, wie man sie jeder Zeit, jeder Kultur wünscht.

Die Geschichte dieses Verlags gleicht einem fortgesetzten Wunder. Denn mehr als materieller Erfolg ist eben der „Geist von Turin“ das Faszinosum. Er zeigt sich in der Individualität der führenden Köpfe, der widerständigen Haltung gegenüber Mussolini, den moralischen Entscheidungen (viele Einaudianer schlossen sich während des Krieges der resistenza an). Erst recht beflügelte dieser kritische, zukunftsgerichtete Geist den Neuanfang nach Italiens Kapitulation 1943.

Cesare Pavese

Lebendiger Geist des Neuanfangs

Maike Albaths Buch lässt ihn lebendig werden, indem sie nicht nur Daten und Fakten zusammenträgt, sondern erzählt. Sie hat lange in Turin gelebt und vermittelt das besondere Klima, die unterschiedlichen Milieus der von klassenbewussten Industriearbeitern und liberalem Bürgertum geprägten Stadt. Ihre wache Sympathie zeigt sich vor allem in den einfühlsamen Portraits: Einaudi, der Lebemann; Italo Calvino, der Intellektuelle; Cesare Pavese; Natalia Ginzburg

Paveses kurzes Leben liest sich wie eine Serie privater Katastrophen und künstlerischer Aufschwünge. Nie besitzt er eine eigene Wohnung, nur ein Zimmer in der Familie seiner Schwester, mit der er in einer Weise umspringt, dass einem graust. Die Beziehungen zu Frauen enden desaströs.

Aber: Seine Übersetzungen öffnen den italienischen Lesern erstmals den Kontinent der amerikanischen  Literatur. Seine Romane feiern Erfolge bei Kritik und Publikum, auch in Deutschland. Die einsamen Frauen gewinnt den Premio Strega und wird von Michelangelo Antonioni verfilmt. Pavese steigt zum Programmleiter des Verlags und zur unumstrittenen literarischen Autorität Italiens auf. Und dann bringt er sich, einundvierzigjährig, im August 1950 in einem Turiner Hotelzimmer um.

Mit der Darstellung dieses Suizids beginnt das Buch. Ein düsterer Auftakt, aber er wird aufgefangen durch die Geschichte der Gruppe. Die Einaudianer halten stand. Der Verlag wird tatsächlich zu einer der einflussreichsten Institutionen der veröffentlichten Meinung. Während die Democrazia Cristiana die politische Macht in Händen hält, entwickelt sich Einaudi zum Zentrum der linken Opposition. Auf sehr italienische Weise: Giulio Einaudi pflegt einen autokratischen Führungsstil und liebt den Luxus. Es geht das Gerücht, dass er die von ihm verlegten Bücher kaum liest. Aber sein Charme, sein Charisma versöhnen die unterschiedlichsten Temperamente und gewinnen neue Autoren und Mitarbeiter. Er ist großzügig, auch im Übersehen geschuldeter Honorare.

Natalia Ginzburg

Ansteckende Begeisterung

Natalia Ginzburg war die Einzige, die ihm mit scharfem Blick auf die Finger klopfte. Unerschrocken sprach und schrieb sie, was sie dachte und war immun gegen den Wortzauber anderer. Die Briefausschnitte, in denen sie den Männern die Leviten liest, gehören zu den erheiterndsten Passagen des Buches. So rabiat sie formuliert, so sensibel ist sie, was jeder Leser ihrer Romane weiß. Wer das Familienlexikon nicht kennt, hat die Lektüre eines der schönsten europäischen Bücher noch vor sich. Sie ist die herbe Lichtgestalt auch hier, in Maike Albaths kongenialer Charakterisierung.

Und Einaudi heute? Es lässt sich nicht verschweigen: Der Verlag wirtschaftete riskant, musste Konkurs anmelden und wurde von Mondadori und damit letztlich von Berlusconi übernommen. Aber Einaudi ist immer noch ein großer Verlag mit weitgespanntem Programm, auch die deutschsprachige Literatur von Goethe bis Thomas Bernhard ist dort zu Hause. Die kritische Tradition wird in einer imponierenden backlist lebendig gehalten.

Maike Albath lässt die Geschichte nicht im Achselzucken der Ohnmacht enden. Ihr Buch ist als Ermutigung gedacht, ihre Begeisterung steckt an. Gewiss haben die Zeitläufte sich radikal verändert. Doch immer noch können Individuen etwas bewirken, wenn sie als Gruppe ein Konzept haben und der Geist, wo und wie auch immer, sie packt.

Gisela Trahms

Maike Albath: Der Geist von Turin.
Pavese, Ginzburg, Einaudi und die Wiedergeburt Italiens nach 1943.
Berenberg – Verlag Berlin 2010. 192 Seiten mit Abbildungen. 19,00 Euro.