Die Seismographinnen
– Lucy Fricke und Nina Jäckle spüren der Katastrophe von Fukushima nach. Von Frank Schorneck
Freitag, 11. März 2011: Bei einem Erdbeben der Stärke 9 auf der Richterskala und einem hierdurch ausgelösten Tsunami kommen im Nordosten Japans über 11.000 Menschen ums Leben. 17.000 weitere werden vermisst. Im Kernkraftwerk Fukushima kommt es zu Explosionen und schwerwiegenden Kettenreaktionen. Von den über 18.000 Menschen, die später für tot erklärt wurden, noch immer sind über 1.000 spurlos verschwunden. Die Strahlungsgefahr ist bis heute alles andere als gebannt, lediglich von anderen Katastrophen und Krisen in den Hintergrund der Berichterstattung gedrängt.
Diese und viele weitere nüchterne Zahlen sind im Internet jederzeit abrufbar. Doch nun spüren nahezu zeitgleich zwei der interessantesten deutschsprachigen Autorinnen der Katastrophe literarisch nach, geben dem Schrecken Gesichter und finden die Schicksale hinter den Statistiken. Beiden liegt dabei nichts ferner als plumpe Effekthascherei, beiden gelingt es, das Grauen durch Leerstellen zu erzeugen. Doch damit enden bereits die offensichtlichen Gemeinsamkeiten von Lucy Frickes „Takeshis Haut“ und Nina Jäckles „Der lange Atem“.
Lucy Fricke blickt durch die Augen einer Deutschen, die es zum Zeitpunkt des Bebens nach Japan verschlagen hat und deren gesamtes bisheriges Leben aus den Fugen gerät. Nina Jäckle vollzieht den radikaleren Perspektivwechsel und lässt einen alten Japaner von seinem traurigen Tagwerk nach dem Beben erzählen. Obwohl sicherlich nicht so beabsichtigt, ergänzen sich die beiden Romane durch ihre unterschiedliche Herangehensweise und tragen so dazu bei, die Katastrophe vor dem Vergessen zu bewahren.
Frida, die Protagonistin in „Takeshis Haut“, ist eine Geräuschemacherin. Der englische Fachbegriff „Sound Effects Editor“ mag in der Medienwelt angesagter sein, doch beide Worte beschreiben Fridas Fähigkeiten nur unzureichend. Vor dem Erzeugen von Geräuschen für Hörspiele oder Filme steht nämlich ihr untrügliches Gespür für Töne und Klänge. Frida vermag kleinste Nuancen in Alltagsgeräuschen wahrzunehmen und unterscheidet klanglich zum Beispiel zwanzig verschiedene Arten, eine Zigarette zu rauchen. Sie gilt als eine der besten ihres Fachs und wenn sie einen Auftrag annimmt, setzt sie höchste Ansprüche an ihre eigene Arbeit an. Ihr Partner Robert versteht sie wortlos, vermutlich, weil er als Barmann ebenfalls gutes Zuhören – wenn auch ein anderes – gelernt hat. Er scheint sie zuweilen besser zu kennen als sie sich selbst. Die Idee, zu heiraten, kommt jedoch von ihrem Steuerberater, als ihre finanzielle Situation schwierig wird. Da wirkt es wie ein Wink des Schicksals, als Frida den vermutlich sonderbarsten Auftrag ihres Lebens erhält: Ein junger Filmemacher hat in Japan einen postapokalyptischen Science-Fiction-Film gedreht, doch die komplette Tonspur ist mysteriöserweise verlorengegangen – mitsamt Tonmann…
Frida fliegt nach Kyoto, um mit ihrem Aufnahmegerät den fremden Geräuschen des ebenso fremden Landes nachzuspüren. Stromleitungen sirren, Ampelanlagen zwitschern, die Fahrkartenautomaten sprechen – und im Tempel findet sie eine so klare Stille, wie sie ihr noch nie begegnet ist. Aber als sie sich später die Aufnahmen anhört, ist da ein Raunen, das ihr fast perfektes Gehör zuvor nicht wahrgenommen hat. Das Problem ist kein technisches: Auch mit einem neuen Aufnahmegerät lässt sich dieses Geräusch nicht ausblenden. Frida beginnt an ihren Sinnen zu zweifeln. Der Concierge des Hauses, in dem sie einquartiert ist, deutet das Geräusch richtig: „Sie hören Land.“ Doch Frida versteht nicht.
Damit sie einen besseren Zugang zu Kyoto bekommt, organisiert ihr der Filmemacher einen Begleiter, Takeshi. Der schauspielernde Punksänger zeigt Frida die Nacht, im Sake-Rausch kommen sie einander näher. „Es war keine Leidenschaft, es war Neugier“, stellt Frida nüchtern fest. Dennoch zieht sich ab dieser Nacht ein spürbarer Riss durch ihre Seele – ein Riss, der in der Außenwelt nur allzu bald eine sichtbare Entsprechung finden soll. Mit dem großen Beben bricht die trügerische Sicherheit zusammen. Die Schilderungen des Leids sind knapp, Frida nimmt fast alle Ereignisse gefiltert durch TV-Nachrichten oder Telefonate wahr. Als klar wird, dass Takeshis Vater, den sie kurz zuvor kennengelernt hat, zu den Opfern zählt, rückt das Leid plötzlich nahe, bekommt es in der Anonymität ein Gesicht.
Lucy Fricke gelingt es, die Zerrissenheit ihrer Protagonistin auf verschiedensten Ebenen zu spiegeln. Der Riss, der Teile eines Landes ins Verderben stürzt und mit dem Atommeiler Fukushima im wahrsten Sinne des Wortes die Kernzelle der japanischen Fortschrittsgläubigkeit erschüttert, ist nur die nach außen sichtbare Katastrophe. Fridas eigene Katastrophe geschieht woanders: Ihre Kommunikation mit Robert ist zusammengebrochen. Worte werden zwar gewechselt, doch ihr Sinn ist merkwürdig verschoben, als drifteten beide auf unterschiedlichen tektonischen Platten auseinander. Diese fügen sich auch nicht wieder zusammen, als Frida nach Deutschland zurückkehrt. Mit einem Riss in der Wand, der Robert kaum auffällt, aber Frida Angst macht, kündigt sich die schmerzhafte Trennung an. Die Erdbeben-App auf dem Computer kann ihr daheim nicht mehr helfen.
Lucy Fricke verknüpft in ihrem Roman geschickt die Katastrophe, deren Bilder sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben, mit der Fragilität von Lebensentwürfen und Zukunftsplanungen. Das einzige, was man ihr vorwerfen könnte, ist, dass selbst ein unaufmerksamer Leser schon zu Beginn des Buches in der Beziehung von Frida und Robert „das Land hört“: ein Grummeln unter der Oberfläche, das nur auf einen Anlass wartet, hervorzubrechen. „Takeshis Haut“ ist ein Beziehungsroman, der die Katastrophe nicht als reines Setting missbraucht. Dafür arbeitet Fricke viel zu akribisch.
Hinein ins Epizentrum von Trauer und Verlust
Dem Leid und dem Verlust ein Gesicht zu geben, ist auch der Ansatz, mit dem sich Nina Jäckle der Erdbeben-Katastrophe nähert. Doch sie geht das Wagnis ein, gänzlich auf eine europäische Perspektive zu verzichten. Ich-Erzähler ihres Romans ist ein japanischer Phantombildzeichner, dessen Aufgabe es ist, die Gesichter der geborgenen und zum Teil schwer entstellten Tsunami-Opfer zu rekonstruieren, um die Identifizierung durch Angehörige erträglicher zu machen. Jeden Tag nimmt er eines der unzähligen Fotos aus seinem Aktenschrank und begibt sich daran, mit feinem Bleistiftstrich auf Spurensuche zu gehen – dem Tod im wahrsten Sinne des Wortes ein lebendiges Antlitz zu geben. So schwer erträglich die Fotos sind, so wichtig ist diese Aufgabe für ihn, um seinen Tag zu strukturieren, um die Katastrophe zu verarbeiten. Denn die Erschütterungen haben auch in seinem Leben Spuren hinterlassen. Nur scheinbar sind die beiden glücklich davongekommen – ihre Beziehung jedoch wird von Nachbeben erschüttert. Zur Zeit des Bebens waren die beiden verreist. Vom alten Leben ist ihnen nichts geblieben als der Schlüssel ihres ehemaligen Hauses und das Gepäck für zwei Tage. Sie wohnen in einem neuen Haus, das sie nicht ihr Heim nennen und jeder Schritt vor die Tür führt Verluste und Leid vor Augen. Nichts, wirklich gar nichts, ist mehr wie früher, oder kann mehr wie früher sein.
Nina Jäckle, deren Romane bisweilen wie experimentelle Versuchsanordnungen wirken, die spielerisch und mit Witz die Sprache zum Tanzen bringen, präsentiert sich hier als eine Autorin, die auch für Schmerz und Verlust eine eigene Sprache findet. Eine Sprache, die angesichts der immensen Zerstörung unerwartet zurückhaltend, nahezu poetisch daherkommt. „Es war der elfte März, und das Meer atmete aus, ins Land hinein atmete es aus und dann atmete es tief wieder ein“ lautet der erste Satz des Romans. Von hier aus umzirkelt Nina Jäckle virtuos das Epizentrum der Trauer und des Verlustes in immer neuen konzentrischen Kreisen wiederkehrender Motive. Sie spiegelt den Schmerz in alltäglichen Abläufen oder Formulierungen. Das kleine Wort „seither“ zieht nun in Gesprächen die Grenze zwischen Glück und Unglück. Die Spiele der Kinder sind noch dieselben wie früher, doch neue Wörter wie Jod, Cäsium und Plutonium ziehen in die Abzählreime ein.
Und immer wieder kommen die Erinnerungen hoch an das Nachbarsmädchen Aoko, das sich vom Erzähler so viele Zeichnungen gewünscht hat, die die für Japan alltäglichen Erdbeben als „kleiner Groll“ bezeichnete und die nicht älter als fünf Jahre werden durfte. Sie hatte gerade erst schwimmen gelernt und war so stolz darauf. Und da ist die junge Frau, die dem Zeichner das Foto ihres Bruders überreicht mit der Bitte, einem der Toten dessen Gesicht zu verleihen, damit ihre Mutter Frieden finden möge. Immer wieder nimmt der Zeichner das Foto zur Hand, hin und hergerissen zwischen dem Drang, den Wunsch der Frau zu erfüllen und der Sorge, einer anderen Familie mit der falschen Beurkundung Leid zuzufügen.
Nina Jäckles Roman mag auf den ersten Blick ruhiger und unspektakulärer wirken als der Lucy Frickes – aber die Erschütterung, die er verursacht, ist intensiver. Er verändert dauerhaft den Blick des Lesers auf Nachrichten aus Fukushima.
Frank Schorneck
Lucy Fricke: Takeshis Haut. Rowohlt 2014. 192 Seiten. 18,95 Euro.
Nina Jäckle: Der lange Atem. Klöpfer & Meyer 2014. 180 Seiten. 19,00 Euro.