Geschrieben am 10. Oktober 2009 von für Bücher, Crimemag

Lucía Puenzo: Das Fischkind

Heikle Themen

Die Argentinierin Lucía Puenzo (*1976) wurde in den letzten zwei Jahren – seit ihrem Filmdebüt XXY – nicht nur hierzulande nahezu durchgehend mit Lob überhäuft und als vielversprechendes neues Talent gefeiert. Anerkennung und Beifall verdient sie zu Recht vor allem für ihren Film, in dem sie das heikle Thema Intersexualität angepackt und eine dringend nötige Debatte darüber entfacht hat. Trotzdem muss man nicht in alle Lobeshymnen einstimmen, denn die literarische Qualität ihres (ebenfalls verfilmten) Romans Das Fischkind kann durchaus skeptisch betrachtet werden. Doris Wieser ist skeptisch …

Der Roman erzählt die Geschichte der jungen Lala, die mit ihren Eltern und ihrem Bruder Pep in einem Reichenviertel von Buenos Aires wohnt. Der Vater, ein egomanischer Schriftsteller, der seine unzähligen Selbstmordversuche so sorgfältig inszeniert, dass er jedes Mal gerettet werden kann, benutzt die Verwicklung des Sohnes ins Drogengeschäft dazu, die Aufmerksamkeit der Presse auf sich zu lenken. Die Mutter, auf ihre Art nicht weniger egomanisch, flüchtet aus ihrem sorglosen wie langweiligen Hausfrauendasein in esoterische, buddhistische Parallelwelten und setzt sich mit ihrem Liebhaber in ein indisches Kloster ab. Und Lala, die sich währenddessen in die paraguayische Hausangestellte Lin, genannt Guayi, verliebt hat, schmiedet mit dieser eskapistische Zukunftspläne: ein Haus am See Yparacaí in Paraguay, Guayis Heimat.

Doch ein Ereignis lässt das ohnehin schon brüchige Scheinglück der Familie vollends zersplittern und den Traum vom Paradies in unerreichbare Ferne rücken: Lala ermordet ihren Vater, da dieser mit Guayi regen sexuellen Kontakt pflegt. Anderntags reist sie allein an den Yparacaí und erfährt von den Anrainern, dass ihre Geliebte ebenfalls ein Menschenleben auf dem Gewissen hat – das ihres Kindes. Währenddessen wird die Paraguayerin in Buenos Aires für den Mord an Lalas Vater verurteilt und in eine Jugendstrafanstalt in La Plata eingewiesen, wo sie im Tausch gegen einige Privilegien ihren Körper für Gruppensex-Partys hergibt. Nach einem Showdown, bei dem Lala drei Zuhälter erschießt, und einem Ende, das gerade noch happy aber zum Glück auch ein bisschen offen ist, bringt es der Roman auf einen ansehnlichen Berg von Leichen, Verletzten und mehreren toten Hunden.

Beinahe (k)ein Kriminalroman

Dass Das Fischkind vom Wagenbach Verlag trotz allem nicht als Kriminalroman vermarktet wird, liegt wahrscheinlich daran, dass Lucía Puenzo eine Vielzahl von brisanten Fragestellungen in das kurze Werk einarbeitet, unter denen das Thema Verbrechen nur eines von vielen zu sein scheint – obwohl es bei genauerem Hinsehen als Ausgangs- und Endpunkt des Plots fungiert. Der Roman befasst sich aber auch mit den Klassengegensätzen in der argentinischen Gesellschaft, der versnobten und überdrüssigen Oberschicht, der Frage nach Schuld und Sühne, einer lesbischen Teenagerliebe sowie Drogenkriminalität und vermischt diese im Grunde sehr realitätsnahen und sozialkritischen Angelegenheiten mit einem magischen Element, das nicht so recht dazu passen will – inhaltlich wie ästhetisch: Lala begegnet im See Yparacaí dem unter Wasser lebenden und mit Schwimmhäuten ausgestatteten Fischkind und entzieht sich nach Art des (literarisch obsoleten) Magischen Realismus einer rationalen Hinterfragung des Erlebten.

Von all den realitätsbezogenen Aspekten hat Lucía Puenzo die Klassengegensätze wahrscheinlich am besten herausgearbeitet, das heißt die ambivalente Beziehung zwischen den sozial höherstehenden Hausherren und den aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Hausmädchen, die im Falle Argentiniens häufig aus Bolivien oder Paraguay immigriert sind. Beide Klassen teilen sich einen intimen Raum, in dem ihre Leben aufs Engste miteinander verbunden sind, ohne dass sie jemals auf Augenhöhe interagieren würden. Lala, die diese Grenze durch ihre Beziehung zu Guayi überschreitet, bekommt das enge Nebeneinander und die gleichzeitige scharfe Trennung der beiden Welten doppelt zu spüren: als Liebende, die die sexuellen Übergriffe ihres Vaters auf das ausnutz- und benutzbare Hausmädchen ertragen muss, und als Mörderin, der es nicht gelingt, die Polizei von ihrer Schuld zu überzeugen, da es für die Gesellschaft allzu bequem ist, eine arme, quasi wertlose Paraguayerin anstelle der Tochter des bekannten Schriftstellers büßen zu lassen. Die meisten anderen Aspekte – so interessant, aktuell und gesellschaftlich relevant sie auch sein mögen – hat die Autorin zugunsten einer schnell getakteten Abfolge von Spannungsmomenten leider nur am Rande behandelt und dabei auf Tiefe und Schärfe verzichtet.

Ästhetisch unentschieden

Besonders eigenwillig ist zudem die Perspektive des Romans. Lalas Hund Serafín übernimmt die Rolle des Ich-Erzählers. Wählt eine Autorin einen so ungewöhnlichen point of view, so darf man erwarten, dass sich dadurch ein besonderer Blick auf die Welt eröffnet, der entweder verfremdend und verstörend wirkt oder das Dargestellte ironisch-komisch verzerrt. Dies geschieht in Lucía Puenzos Roman jedoch nicht. Vielmehr neigt der Leser dazu, zeitweise zu vergessen, dass hier eigentlich eine ziemlich hässliche Promenadenmischung berichtet, weil die Erzählung immer wieder zu einer internen Fokalisierung der Protagonistin Lala übergeht – zum Teil werden sogar Guayi und andere Figuren zum Reflektor. Da ihm eine Innensicht aber nicht in dieser Form zugänglich sein dürfte, genauso wenig wie die eine oder andere von ihm referierte Hintergrundinformation, kann der Köter als Ich-Erzähler nicht überzeugen. Außer der Begegnung mit ein paar anderen Hunden und Hündinnen, denen er nachsteigt, weiß Serafín nur wenig Hundiges zu berichten. Er fühlt und spricht eher wie ein menschlicher, stiller Beobachter und versucht, einen humorigen Ton anzuschlagen, der aber angesichts der ernsten Themen seltsam verharmlosend wirkt. (Zum Glück spielt die Hundeperspektive in der Verfilmung – vorgestellt auf der Berlinale 2009 – keine Rolle mehr).

Der Roman bleibt thematisch allzu heterogen, seine Perspektive unstimmig und seine Schreibweise unentschieden (realistisch? fantastisch? magisch?). Trotz dieser ästhetischen Einwände fesseln sein ungewöhnliches, exotisches Setting – in dem sogar Hunde Guaraní sprechen – sowie sein rasantes Erzähltempo. Da Lucía Puenzo es außerdem versteht, inhaltlich-thematisch zu faszinieren, ist ihr noch viel zuzutrauen, fraglich ist nur, ob in der Literatur oder doch eher im Film.

Doris Wieser

Lucía Puenzo: Das Fischkind (El niño pez, 2004).
Deutsch von Rike Bolte.
Berlin: Wagenbach 2009. 157 Seiten. 16,90 Euro.

| DORIS WIESER ist zuständig für die iberophonen Teile unserer Partner-Seite Europolar.