Der Horror unserer Tage
– Louise Welsh („Verdacht ist ein unheimlicher Nachbar“) und Anne Goldmann („Lichtschacht“) versuchen sich an einem alten, schönen Genre – dem Psycho-Horror-Thriller. Eine Doppelrezension von Joachim Feldmann.
Jane ist hochschwanger und allein in einer fremden Stadt. Das heißt, eigentlich ist sie ja mit ihrer Lebensgefährtin Petra von London nach Berlin übergesiedelt, doch diese ist als erfolgreiche Bankerin zu beschäftigt, um der jungen Schottin bei der Eingewöhnung zur Seite zu stehen. Und das ist gar nicht gut. Schon bald wird Jane ihre neue Umgebung unheimlich. Vor allem Alban Mann, ein Gynäkologe, der mit seiner Teenager-Tochter Anna in der Nachbarwohnung lebt, trägt zu diesem Gefühl bei. Sie hat den begründeten Verdacht, dass der Arzt das Mädchen misshandelt, aber all ihre Versuche zu helfen, werden brüsk zurückgewiesen. Zur Passivität verurteilt, beginnt Jane, Nachforschungen anzustellen. Sie findet heraus, dass Annas Mutter, eine ehemalige Prostituierte, vor vielen Jahren spurlos verschwunden ist. Hat Mann sie umgebracht?
Kopie?
Im neuen Roman der schottische Erfolgsautorin Louise Welsh wird Berlin-Mitte zur Kulisse eines Schauerromans klassischer Prägung. Da huschen Schatten durchs Treppenhaus, hinter geschlossenen Türen ertönen Schreie, und die Geister der Vergangenheit scheinen überaus lebendig. Irgendwann wissen auch wir Leser nicht mehr, ob wir die Schrecken real sind oder ob sie nur der wilden Fantasie einer kontaktarmen jungen Frau entspringen. Sicher ist allerdings, dass am Ende Blut fließt. Und das nicht zu knapp.
Louise Welsh zieht in „Verdacht ist ein unheimlicher Nachbar“ alle genreüblichen Register, aber nicht auf sonderlich subtile Weise. Wie bloße Dekoration wirken die Zugeständnisse an die Gegenwart. Wenn sich die „schwere Holztür“ einer Kirche „knarrend“ öffnet „und ein Windstoß totes Laub auf den Mittelgang“ bläst, weiß man, wo man sich wirklich befindet.
Original?
Ein besseres Gespür für den Horror unserer Tage beweist Anne Goldmann in ihrem thematisch verwandten Thriller „Lichtschacht“. Auch hier steht eine junge Frau im Mittelpunkt, die von Salzburg nach Wien gezogen ist, um das anzufangen, was man gemeinhin als „neues Leben“ bezeichnet. Lena ist in der Wohnung einer Freundin untergekommen, die für längere Zeit verreist ist, und verdient ihren Lebensunterhalt, indem sie Katzen versorgt, deren Besitzer im Urlaub sind, und in einem Laden für gehobene Geschenkartikel aushilft.
Überhaupt scheint ihre Existenz auf der Abwesenheit anderer Menschen zu beruhen. Eines Abends beobachtet sie zwei Frauen und einen Mann, die auf dem Dach des Nachbarhauses etwas trinken. Doch plötzlich ist eine der Frauen verschwunden. Ist sie heruntergefallen? Oder hat jemand nachgeholfen? Lena, die gerade einen Joint ausgemacht hat, ist sich nicht sicher, ob sie sich die ganze Situation nicht nur eingebildet hat. Nicht im Unklaren gelassen werden die Leser. Anne Goldmann macht sehr schnell deutlich, dass hier ein ebenso raffinierter wie manipulativer Täter am Werk war, verschweigt aber seine Identität. Während Lena versucht, das Geschehene zu verdrängen und sich auf eine komplizierte Beziehung zu zwei befreundeten Männern einlässt, bereitet der Mörder sein nächstes Verbrechen vor. Dass es eine weitere Zeugin gab, weiß er noch nicht.
Mit großem Geschick gestaltet Anne Goldmann diese zwei, sich unterschwellig gegenseitig kommentierenden, Erzählstränge. Die Frage nach der Identität des Mörders vermischt sich mit den problematischen Situationen in Lenas Beziehungsleben. Jeder scheint mit einem Mal verdächtig, und unschuldig ist eh niemand. Der Anlass für das Kapitalverbrechen andererseits erweist sich als ausgesprochen banal. Auch dieser Spannungsroman profitiert von großen Vorbildern. Hitchcocks „Fenster zum Hof“ kommt in den Sinn, aber auch die psychologischen Thriller einer Patricia Highsmith. Aber Anne Goldmann kopiert nicht, sondern erzählt ihre ganz eigene Geschichte. Und die ist höchst zeitgemäß.
Joachim Feldmann
Louise Welsh: Verdacht ist ein unheimlicher Nachbar (The Girl on the Stairs, 2012). Roman. Deutsch von Astrid Gravert. München: Kunstmann 2014. 271 Seiten. 19,95 Euro. Verlagsinformationen zu Buch und Autorin. Porträtfoto: © Gunter Gluecklic/Kunstmann Verlag.
Anne Goldmann: Lichtschacht. Roman. Hamburg: Argument Verlag 2014. 284 Seiten. 12,00 Euro. Verlagsinformationen zu Buch und Autorin. Verlagsinformationen zum Buch. Zur Homepage der Autorin.