Kurzrezensionen – diesmal mit einer Haiku-Rezension von Friederike Moldenhauer zu Ulf Erdmann Ziegler, einem Bericht über eine Lesung von Ernesto Cardenal in Münster von Christiane Nitsche (CN) und Rezensionen zu Amelie Soyka („Tanzen und tanzen und nichts als tanzen“) und A.D. Miller („Die eiskalte Jahreszeit der Liebe“), geschrieben von Christina Mohr (MO) und Karsten Herrmann (KH).
(FM) Haiku Rezension
Leere auf dem Blatt
Ein Leben für die Typo
Ein schöner Bogen
Ulf Erdmann Ziegler: Nichts Weißes. Suhrkamp 2012. 259 Seiten. 19,95 Euro. Eine Leseprobe finden Sie hier.
Herzen , umarmen, strahlen
(CN) Dass es ein Abschied ist, merkt man allenfalls an der Auswahl der Texte. Ernesto Cardenal liest zum Auftakt seiner letzten Tournee in Münster aus frühen Liebesgedichten ebenso wie aus dem „Cantico Cosmico“ und jüngsten Versen, die nach eigenem Bekunden „wie sehr einfache Pinselstriche“ sind.
Er ist erkältet, muss immer wieder husten und sich schneuzen. Darum liest er längere Texte nur an, während die deutsche Übertragung ausführlicher gerät. „Wir bitten um Verständnis“, erklärt Lutz Kliche. Kliche ist seit vielen Jahren Übersetzer des Cardenal’schen Werkes. Während dieser Abschiedsreise bleibt er an der Seite des bald 88-Jährigen.
Natürlich sind es besonders jene jüngsten Verse, die aufhorchen lassen. Wer von den vielen Zuhörern in der voll besetzten Erlöserkirche suchte nicht nach einem Fazit, einer alles umschließenden Lebensbilanz. Was sie bekamen, waren Naturbetrachtungen wie diese: „Ein großer weißer Reiher fliegt langsam, mehrere schwarze Vögel ziehen leise vorbei.“ Oder Alltägliches aus Managua: „Die Glocken in Managua. Sie läuten, läuten, läuten. Schweigen. Und dann singt ein Vogel.“ Cardenal schmunzelt, lächelt freundlich jedem entgegen, der sich in der Pause mit einem Autogrammwunsch an ihn richtet. Er beantwortet geduldig Fragen, herzt, umarmt, strahlt und winkt. Wehmut sieht anders aus. Er hat das Augenzwinkern nicht aufgegeben, genauso wenig wie die Stimme der Empörung, die etwa Arbeitsbedingungen, unter denen im Kongo der Rohstoff Coltan für die Handy-Produktion gefördert wird, aufs bitterste anklagt. „Coltan in deinem Handy, in das du sprichst und sprichst und lachst. Aber du weißt gar nicht, dass viele Menschen sterben für dieses Handy.“
Umrahmt von der Musik der „Grupo Sal“, die Cardenal traditionell auf seiner Tour begleitet, verlieren manche Verse ihre Schwere. Die international besetzte Band bedient die gesamte Palette lateinamerikanischer Rhythmen, ohne je Cardenals Botschaft aus den Augen zu verlieren. Die Ballade vom armen Rosenverkäufer im Stil Piazzollas etwa, geht dank der grandiosen Stimme von Fernando Dias Costa unter die Haut. „Hör zu, es lohnt sich“, lautet der Titel des letzten Stücks.
Und tatsächlich: In der Zugabe, nach stehenden Ovationen, gibt es sie doch noch, die Bilanz. „Das Konzept Welt ist rein irdisch“, stellt Cardenal dichtend fest. Und doch gebe es eine „Losung, die wir alle in uns tragen: Ich komme von etwas, das im Himmel wohnt.“
Ernesto Cardenal: Aus Sternen geboren. Das poetische Werk. 2 Bände. Hammer Verlag 2012. 1300 Seiten. 56, 00 Euro.
Tänzerinnen der Moderne
(MO) In den letzten Jahren erschienen neue Biographien über z.B. Gret Palucca (von Susanne Beyer) und Valeska Gert (Wolfgang Müller), die dazu beitrugen, dass dem Modernen Ausdruckstanz wieder mehr Aufmerksamkeit zuteil wurde. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts allerdings war Moderner Tanz die Kunstform schlechthin: Pionierinnen wie Isadora Duncan oder Mary Wigman feierten weltweit Erfolge, beeinflussten Unzählige und gründeten Schulen, die zum Teil auch heute noch bestehen wie die Palucca-Schule in Dresden.
Im Modernen Tanz wurden die Regeln und Einschränkungen des bis dahin populären Balletttanzes überwunden und gebrochen, junge Künstlerinnen (der Moderne Tanz wurde überwiegend und maßgeblich von Frauen initiiert) suchten nach neuen Formen des Ausdrucks, die dem Zeitgeist entsprachen. Die konnten in der Karikierung und Überbetonung bekannter Tanzschritte gefunden werden – eine Spezialität Josephine Bakers, deren Performances bis zur Clownerie gingen –, oder in Tatjana Barbakoffs anspruchsvoll-expressiver Körpersprache, die man heute vielleicht Vogueing nennen würde. Die Berlinerin Anita Berber wurde wegen ihres skandalöses Privatleben und ihre selbstzerstörerischen Süchte berühmter als durch ihre Tanzkunst, dennoch – oder gerade deswegen – stehen Berbers „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ beispielhaft für die wilden 1920er Jahre.
In dem von Amelie Soyka herausgegebenen Buch „Tanzen und tanzen und nichts als tanzen“ werden die Lebens- und Wirkungsgeschichten von Wigman, Berber und Gert, aber auch weniger bekannten Tänzerinnen wie Dore Hoyer, Grete Wiesenthal, Trudi Schoop oder Rosalia Chladek erzählt – jede für sich eine große Künstlerin, deren Wiederentdeckung lohnt. Den AutorInnen des Sammelbandes sei an dieser Stelle für die plastischen und lebendigen Texte gedankt: da von den genannten Tänzerinnen nur wenige Filmaufnahmen existieren, ist die Beschreibung ihrer Kunst ungleich schwerer als von Malerei oder Bildhauerei.
Amelie Soyka (Hg.): Tanzen und tanzen und nichts als tanzen. Tänzerinnen der Moderne von Josephine Baker bis Mary Wigman. AvivA Verlag 2012. 288 Seiten. 14,90 Euro. Mehr hier.
Moskauer Schneeglöckchen
(KH) In seinem Debüt-Roman „Die eiskalte Jahreszeit der Liebe“ zeigt der Brite A.D. Miller am Schauplatz Moskau, wie sein junger Protagonist durch eine schicksalhafte Begegnung seine moralische Integrität aufs Spiel setzt und schleichend schuldig wird. Von Karsten Herrmann.
Nick hat nach einer „Dreißig-plus-Phase der Enttäuschungen“ einen Job als Jurist in Moskau angenommen, wo er gigantische Kredite für Ölgeschäfte und Investments im Grauzonenbereich vertraglich absichert. Aber auch im „Wilden Osten“ kann er seiner Midlife-Crisis und der bohrenden Frage „War das schon alles?“ nicht entkommen. Doch dann trifft er in der Metro auf die junge Mascha, rettet sie vor einem Raubüberfall und verfällt ihr: „Sie besaß eine elementare, erdhafte Energie, packend, fordern, humorvoll, begierig zu gefallen und zu improvisieren.“
Nickt stürzt sich in eine verhängnisvolle Affäre mit Mascha und bemerkt zu spät, dass er – nicht nur, aber vor allem – ein Rädchen in einem perfiden Plan ist. Zugleich geht seine Firma einem riesigen Schwindel auf dem Leim, der Nick und seinem Chef den Job zu kosten droht.
Mit einer stellenweise allzu offensichtlichen literarischen Hinhaltetaktik führt Miller, der jahrelang als Moskau-Korrespondent für „The Economist“ gearbeitet hat, die beiden Stränge zu ihrem erschreckenden Ende. Doch die eigentliche Stärke des Romans liegt auch nicht im Spannungsbogen, sondern in der authentischen und mit viel Lokalkolorit angereicherten Schilderung der russischen Hauptstadt zu Beginn des neuen Jahrtausends. Miller zeigt die ungehemmte Goldrauschmentalität und die Jagd nach schnellem Reichtum – eben das „typisch russische Karussell“ aus „Straftaten, Business, Politik, Spionage“, in das die westlichen Banken für Boni und Profit nur allzu gerne einsteigen.
Miller taucht die Schönheit und den Schrecken Moskaus dabei in nachdrückliche und poetische Bilder – so wie das der „Schneeglöckchen“, einem Slang für Leichen, die während des langen Moskauer Winters im Schnee vergraben werden und erst im Tauwetter des Frühjahrs wieder zum Vorschein kommen und ihre grausame Geschichten erzählen.
Karsten Herrmann
A.D. Miller: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe (Snowdrops, 2011). Aus dem Englischen von Bernhard Robben. S. Fischer 2012. 286 Seiten. 18,99 Euro.