Geschrieben am 2. November 2011 von für Bücher, Litmag

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Kurzrezensionen – diesmal mit der ersten Haiku-Rezension der Welt (Friederike Moldenhauer (FM) über Guðmundur Óskarsson) und neuen Büchern von Thomas Meinecke, Felix Mertikat/Benjamin Schreuder, Nikola Madzirov und Ulrike Halbe-Bauer/Brigitta Neumeister-Taroni; besprochen von Christina Mohr (CM), Charlotte von Bausznern (CvB) und Carl Wilhelm Macke (CWM).

(FM) Haiku Rezension

Nordisches Drama
düster und sehr verzweifelt
grandios gemacht

Guðmundur Óskarsson: Bankster (Bankster, 2009). Aus dem Isländischen von Anika Lüders. Frankfurter Verlagsanstalt 2011. 254 Seiten. 22,90 Euro. Mehr zum Buch hier, ein Interview mit dem Autor lesen Sie hier.

Bizarr-interessante Sachverhalte

(CM) Wir behaupten einfach mal, dass die Romane von Thomas Meinecke in popkulturellen Kreisen per se zum Kanon gehören – ohne dass sie tatsächlich gelesen werden. Ungefähr wie bei Umberto Eco (in anderen Kreisen): man kauft das Buch und guckt kurz hinein, damit man mitreden kann, vor der kompletten Lektüre schreckt man zurück, da der Inhalt zu komplex scheint (siehe auch: „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“ / Pierre Bayard).

Komplex ist „Lookalikes“ in der Tat, aber wie immer zieht die für Meinecke so typische Begeisterung für bizarr-interessante Sachverhalte den Leser ins Buch hinein und erst am Schluss wieder hinaus. Zum ersten Mal arbeitet sich Meinecke selbst als Figur in den Text ein: Thomas Meinecke ist Thomas Meinecke, der nach Salvador de Bahia reist, um sich dort auf die Spuren von Hubert Fichte zu begeben und im Rahmen der Recherche an religiösen Candomblé-Zeremonien teilnimmt.

Vor allem aber geht es um Doppelgänger, Lookalikes berühmter Personen wie Josephine Baker, Serge Gainsbourg und Marlon Brando, die sich auf Düsseldorfs Königsallee treffen, Bücher über sich (bzw. ihre prominenten Lookalikes) lesen, über sich (wen genau?) und Genderthemen debattieren, das alles im social media-Duktus, angereichert mit den Theorien von Julia Kristevy, Roland Barthes und der von Meinecke verehrten Judith Butler.

Meinecke fungiert in seinem Text (wobei Meinecke stets die Frage stellt, wer überhaupt als Urheber eines Textes gelten kann) als Autor und DJ: Grundsätzlich passen alle Themen/Musiken zusammen, der Sinn ergibt sich aus dem Mix.

Thomas Meinecke: Lookalikes. Suhrkamp Verlag 2011. 393 Seiten. 22,90 Euro.

Raben, Milchmänner und dicke Frauen – ein Schauermärchen nur für Erwachsene

(CvB) Dass Rabenvögel durchaus nicht die verlässlichsten Orientierungshelfer sind, mussten schon der kleine Bär und der kleine Tiger auf der Suche nach ihrem Panama-Paradies erleben. „Jakob“ ist vor etwa einem Jahr als Debüt- und Diplomprojekt zweier Filmstudenten entstanden. Doch, anrührende, stimmige Bilder haben der Zeichner Felix Mertikat  und der Schreiber Benjamin Schreuder da gefunden.

Ein klassisches Schubladenprojekt ist es zumindest nicht geworden: Jakob auf der Suche nach seiner toten Mutter, stur und naiv, fragt Mensch und Tier und alles, was dazwischen liegt. Raben, Schildkröten, Milchmänner und dicke Frauen gehören natürlich zur Grundausstattung solcher Schauermärchen. Ein Comic, ein Bilderbuch, eine Graphic Novel, ein Storyboard. ist ja auch egal, das Kind, mit dem ich mittels dieses Buches das große Thema Tod betrachten würde, wäre mit Sicherheit eher schon Jugendlicher.

Woran dieses Projekt aber vor allem schwer trägt, ist die Unentschlossenheit: Mittelalter, Fantasy, groteske Märchenwelt und düstere Zeitlosigkeit, Mertikat und Schreuder haben einfach ein paar zu viele ihrer Kindheits-Klassiker auf einmal verarbeiten wollen. Der Stolperstein liegt gerade darin, der Logik von Traum- und Kindererzählungen, die sich so verlockend ähneln, zu vertrauen – denn geschwiegen wird in jenen von den Momenten der Leere. Die vermisst man bei Jakob öfter mal.

Felix Mertikat und Benjamin Schreuder: Jakob. Cross Cult Verlag 2010. 64 Seiten. 16,80 Euro. Eine Blätterprobe finden Sie hier, zur Homepage von Mertikat geht’s hier, ein Interview mit Mertikat und Schreuder hier.
Bis 25. November 2011 läuft noch die Jakob-Ausstellung in der Galerie Ida Illuster, Sophienstraße 32, 10178 Berlin-Mitte.

Wenn die Zeit aufhört

(CWM) Nikola Madzirov wurde 1973 in Mazedonien, einem im heutigen Europa sehr an den Rand gedrängten Land, geboren. Dass in dem ansonsten gewohnt gut präsentierten neuen Band der Münchner „Edition Lyrik Kabinett“ keine weitere biographische Information geliefert wird, nimmt man mit Erstaunen zur Kenntnis. Wenigstens eine Fußnote zum Autor hätte man sich doch gewünscht. Steht in vielen Neuerscheinungen die Biographie des Autors zu sehr im Mittelpunkt, findet man hier das Gegenteil einer vollkommenen „De-Personalisierung“ der Literatur. So wird der Leser gezwungen, nur die Gedichte eines bislang im deutschen Sprachraum unbekannten Lyrikers zu lesen.

Und da stößt man auf ganz wunderbar leichte Gedichte, von denen man einzelne Verse auswendig lernen möchte, um sie immer bei sich zu haben. „Sei allein, aber nicht einsam, / damit dich der Himmel umarmen kann. / Damit du die einsame Erde umarmen kannst“. Überhaupt ist in einigen Gedichten immer wieder von „Umarmungen“ die Rede, mit denen der Autor der Welt begegnet. Aber es sind keine Gesten des Einverständnisses mit der Welt so wie sie ist, sondern Öffnungen zu anderen Sichtweisen des uns bekannten Alltags. „An der Umarmung hinter der Ecke wirst du erkennen,/ daß jemand fortgeht, irgendwohin. So ist es immer…Mein Herz faßt mehr und mehr Menschen, weil sie nicht mehr da sind.“

Immer wieder schimmert auch Zeitgeschichte durch in seinen Gedichten, die so still daherkommen und so vieles zu sagen haben. „Ein Überbleibsel eines anderen Jahrhunderts sind wir./ Wie Wölfe im Visier der ewigen Schuld/ ziehen wir uns in die Landschaften/ der gezähmten Einsamkeit zurück“ (aus dem Gedicht „Wenn die Zeit aufhört“).

Und dann ein Vers, in dem sich die „große Geschichte“ kreuzt mit der „kleinen Geschichte“ des Autors: „Europa vereinte sich,/ bevor wir geboren wurden, und das Haar/ eines Mädchens breitete sich ruhig/ über die Oberfläche des Meeres aus“. Dieses Europa, an das uns der Autor hier erinnert, wünschen wir uns auch und nicht nur das Europa der hetzenden Börsenmakler, der kühlen Spekulanten und trickreichen Politiker.

Nikola Madzirov: Versetzter Stein. Aus dem Mazedonischen von Alexander Sitzmann. Edition Lyrik-Kabinett bei Hanser 2011. 58 Seiten. 14,90 Euro. Einige Gedichte von Madzirov finden Sie hier.

Kunst- und Emanzipationsgeschichte

(CM) Noch bis Mitte Januar 2012 läuft im Düsseldorfer Museum K20 die Ausstellung „Die andere Seite des Mondes“, die Künstlerinnen der 1920er- und 1930er-Jahre präsentiert. Neben Hanna Höch, Sonia Delaunay und anderen wird auch die Malerin Sophie Taueber-Arp vorgestellt, die heute – wenn überhaupt – in erster Linie als Ehefrau des berühmten Dada- und Surrealisten Hans Arp ein Begriff ist.

Dass die 1943 verstorbene Taueber-Arp eine der bedeutendsten Vertreterinnen resp. Begründerinnen der nicht-gegenständlichen, konkreten Malerei und damit eine Avantgardistin der Moderne war, ist in Vergessenheit geraten. Das Schicksal des Vergessenseins teilt Sophie Taueber-Arp mit unzähligen, fast möchte man ein „natürlich“ hinzufügen, KünstlerINNEN, die ungeachtet der Bedeutung ihres Werks in der Kunstgeschichte kaum eine Rolle spielen.

Hannah Höch, Siebenmeilenstiefel, um 1934, Foto: Christoph Irrgang

Die Autorinnen Ulrike Halbe-Bauer und Brigitta Neumeister-Taroni räumen mit diesem Missstand auf: Das reich bebilderte Buch „Bedeutende Künstlerinnen“ versammelt die Biografien zwölf bildender Künstlerinnen von Artemisia Gentileschi über Käthe Kollwitz, Louise Bourgeois, Lee Krasner, Paula Modersohn-Becker und Louise Modersohn-Braeling (nach Paulas Tod dritte Gattin Otto Modersohns). Jede der porträtierten Frauen wählte einen ungewöhnlichen, individuellen Weg, um ihre künstlerischen Ambitionen mit gesellschaftlichen und familiären Anforderungen zu vereinbaren – oder sich gegen alle Widerstände für die Kunst zu entscheiden.

Louise Bourgeois fand spät zu ihrem künstlerischen Ausdruck: erst als über 40-jährige konnte sie die Demütigungen durch Ehemann und Familie in beeindruckende Werke wie ihre Spinnen-Skulpturen transformieren. Die amerikanische Malerin Lilly Martin Spencer (1822 -1902) lebte in bitterer Armut, weil niemand für Zeichnungen von weiblicher Hand Geld ausgeben wollte. Heute gelten ihre Arbeiten als wichtige Genre-Darstellungen. Leider ist „Bedeutende Künstlerinnen“ mit 160 Seiten ein recht schmaler Band: nach der Lektüre ist man begierig auf mehr solcher Kunst- und Emanzipationsgeschichte vereinenden Porträts.

Ulrike Halbe-Bauer/Brigitta Neumeister-Taroni: Bedeutende Künstlerinnen: Ich mache es auf meine Art. Belser Verlag 2011. 160 Seiten. 24,95. Zur Verlagshomepage. Mehr zur Ausstellung „Die andere Seite des Mondes“ finden Sie hier.

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