Neuer Bücher von Junot Diaz, Jelle Behnert, Hans Magnus Enzensberger und Konrad Lorenz – kurz vorgestellt von Karsten Herrmann (KH), Frank Göhre (FG), Carl Wilhelm Macke (CWM) und Brigitte Helbling (HEL).
Ein Erzähler wie ein Vulkan
(KH) Der Pulitzer-Preisträger und gebürtige Dominikaner Junot Diaz ist einer der wichtigsten literarischen Vertreter des farbigen Amerika. In seiner kurioserweise als „Roman“ titulierten Kurzgeschichtensammlung „Und so verlierst du sie“ erzählt er vom Leben und Lieben der (dominikanischen) Einwanderer in New Jersey.
Hauptprotagonist ist der Ich-Erzähler Junior, der wie alle Helden bei Diaz eigentlich „kein schlechter Kerl ist“, aber doch „schwach, voller Fehler“. Die größte Schwäche, wen wundert es, sind immer wieder die Frauen. Und so drehen die Stories sich zwischen bretthartem Machismo und großer Zärtlichkeit um Liebe, Fremdgehen, Eifersucht und zerreißendem Trennungsschmerz.
Sie erzählen aber auch von der Zerrissenheit der Familien zwischen ihrer alten dominikanischen Heimat, die zugleich Sehnsuchts- und Schreckensort ist, und ihrem Leben in den USA, wo sie hartnäckig ihren Traum von einem besseren Leben verwirklichen wollen – und immer wieder das Scheitern und den alltäglichen Rassismus in den USA verkraften müssen.
Junot Diaz ist hautnah und mit viel Sympathie dran an seinen wohl durhaus auch autobiographisch gefärbten Figuren und ihrem ganz normalen Alltag, ihren Hoffnungen, Schwächen und Leidenschaften. Er erzählt wie ein Vulkan voller Feuer und Sinnlichkeit und lädt seine Prosa mit funkelnden, fauchenden spanischen Slang-Elementen auf. Die Stories von Junot Diaz sind leicht, locker und äußerst treffsicher aus der Hüfte geschossen, sie packen, berühren und klingen noch lange nach.
Junot Diaz: Und so verlierst du sie. Aus dem Amerikanischen von Eva Kemper. S. Fischer, 268 Seiten. 16,99 Euro.
Keine Haare am Sack, aber dicken Kamm in der Tasche
(FG) Das erste Kapitel: Der Junge hat noch keine Haare am Sack, weiß aber schon, dass der Kopf eines Kometen Koma genannt wird. Er verehrt die vierzehnjährige Tilda, deren Schönheit „ein Befehl ist, dem ich gehorche“. Ihre Angst aber ist „wie ein schwarzes Loch in der Mittagsstunde“. Wenn sie schweigt ist die Stille so bedrohlich „als wenn das Licht seine Messerklingen wetzt“. Und „die Luft flimmert wie nach einer Atombombenexplosion“. Da verschwimmt und teilt Tilda sich dann „wie eine Zelle in zwei Gestalten“. Allein aber ist sie auch nicht ohne. Sie findet, dass die Kindheit eine Pyramide ist: „Die Spitze bedeutet: Jetzt! Auf dieser Spitze steht unsere ganze Zukunft wie eine Luftspiegelung der unteren Pyramide.“ Sie himmelt die Bay City Rollers an und findet die Hasenscharte eines zweiten Verehrers cool: „Die ist Punk.“
Alle Achtung.
Es ist Mitte der Siebziger Jahre und diese Kids äußern sich dermaßen scheißklug und bedeutungsschwanger, dass ich ihnen absolut nichts von ihrer Geschichte abkaufe und es beim Lesen des ersten Kapitels belasse, auch wenn die Jury des Hamburger Klaus Michael Kühne Preis 2013 das Buch als „stimmiges Bild pubertärer Verwirrungen“ preist und dieses „mitunter genialische Sinnbild für pubertäre Entgrenzung“ mit einem 10.000 Euro Scheck auszeichnet.
Jelle Behnert: Liebe Steine Scherben. Roman. Blumenbar, Aufbau-Verlag, Berlin, 2013. 251 Seiten. 18,99 Euro.
Die Gelassenheit des Herrn E.
(CWM) Nur das Geburtsdatum belegt unwiderlegbar, dass Hans Magnus Enzensberger älter als achtzig Jahre ist. In seinem Alter blicken andere Altersgenossen gerne zurück und schreiben Memoiren. Enzensberger aber war immer schon ein großer Versteckspieler, um sich so zu maskieren und schwer angreifbar zu machen. So versteckt er sich auch in seinem neuen Band mit Aufzeichnungen hinter einer Figur mit dem Namen Zett. Es könnte sich dabei um autobiographische Notizen handeln, aber so ganz eindeutig ist man bei dieser Zuordnung allerdings auch nicht. Dieser Herr Zett streift nun scheinbar ziellos durch einen städtischen Park und trifft dort auf diverse Passanten, mit denen er ins Gespräch kommt. Oft auch bleibt er alleine und lässt seine Gedanken einfach so durch die kleinen Alltagsprobleme und die großen Zeitereignisse taumeln.
Es gibt kein Thema, das Herrn Zett nicht interessiert, von der Bankenkrise über Europa, die zeitgenössische Kunst, den Fußball, die Religion, die Monarchie und die Demokratie. Zu allem fällt Herrn Zett auch eine Anmerkung ein, ob sie auch eine Antwort auf viele Fragen ist, lässt dieser selbstironische, gelassene, manchmal auch etwas arrogante Herr Zett offen. Man weiß nach der Lektüre dieser Aufzeichnungen einfach nicht, ob es sich bei diesem Herrn Zett um einen linken oder rechten, gläubigen oder ungläubigen Menschen handelt. Und der Autor Enzensberger würde sich über diese Verunsicherung der Leser seiner Aufzeichnungen sicher freuen. Es wäre schön, wenn man über alle Weltprobleme so gelassen sprechen könnte wie es hier Herr Zett macht. Aber ist diese Gelassenheit auch immer gerechtfertigt…?
Hans Magnus Enzensberger: Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ. Aufgelesen von seinen Zuhörern. Suhrkamp, Berlin, 2013. 226 Seiten. 15,00 Euro.
Allgemeines Unglück, vorprogrammiert
(HEL) Wer Konrad Lorenz „Rohrkrepierer“ (zur CM-Rezension) gelesen hat, der weiß, dass unser „Kalle“ nach einer wildbewegten Jugend auf St. Pauli, in Sichtweite der Gewerbedamen von der Herbertstraße, dem Stadtteil endgültig den Rücken zugekehrt hat und zur See gefahren ist. Unter welchen Umständen ist Thema des Fortsetzungsbandes, „Der Dwarsläufer“.
Die Umstände tragen Frauennamen, Elke, „die Feine“, die eine, und Julia die andere, in die sich Kalle während eines Landganges in Hamburg verknallt. Mit Elke schreibt er sich. Und Julia verfolgt er wie nur irgendein Jäger, der sich an seiner Beute überheben will. Als die Feine von ihm schwanger wird – kurz, nachdem er nicht mit, aber doch neben seiner Julia eine erste Nacht verbracht hat – wird die Sache kompliziert. Mitfühlend und genau schildert Lorenz, wie sein Kalle sich in einem Netz aus Lügen verstrickt.
Schön ist das alles nicht. Als kindlicher Held funktionierte Kalle in „Rohrkrepierer“ als Seismograph einer Zeit, die von den größeren Getrieben der Geschichte aus den Angeln gehoben worden war; die Schuld, in all ihren komplexen Verästelungen, lag bei den Erwachsenen. Nun ist Kalle selbst erwachsen, lädt Schuld auf Schuld, behauptet gegenüber Frau mit Kind, er müsse die Woche über zum Studium in der Stadt leben, erzählt der Geliebten in der Stadt, er habe sich von seiner Familie längst getrennt. Das kann nur in einem allgemeinen Unglück enden, und so ist es, bei allen parallel laufenden Seefahrer, WG- und Zeitgeistgeschichten, dann auch. Mittendrin steckt diesmal „Alphamax“, Sohn von Kalle und Elke, das nächste Kind, das den Turbulenzen der Erwachsenen unschuldig ausgeliefert wird.
Konrad Lorenz: Der Dwarsläufer. Edition Temmen. Bremen 2013. 456 Seiten. 12,90 Euro.