Geschrieben am 1. Juni 2011 von für Bücher, Litmag

LitMag Quickies

Kurzrezensionen – diesmal mit Michael Stavaric, Clemens J. Setz, ATAK und  Nino Haratischwili; besprochen von Brigitte Helbling (hel), Gisela Trahms (gt) und Frank Schorneck (fs).

Dystopie für geduldige Melancholiker

(hel) – In Brenntage, dem neuen Roman des österreichisch-tschechischen Autors Michael Stavaric, wird der Leser in abseitigen Wald geführt und dort sitzen gelassen, um sich die erratische Chronik einer Siedlung anzuhören, die ein namenloser Jüngling teils in autobiografischen Erinnerungsmomenten, teils als Weitergabe der Erzählungen von Bewohnern vorträgt. Anonymus lebt bei Onkel und Tante, der Vater ist verschollen, die Mutter tot, trotzdem erreichen den Sohn regelmäßig Briefe von ihr, die eventuell auch besagter Onkel verfasst. Mysteriös! Ihre Glanzzeiten erlebte die kleine Menschengemeinschaft vor Jahrzehnten, als der Bergbau oberhalb der Hütten noch boomte, jetzt sind die Minen verlassen und die Wälder voller Wild und spielender Kinder und fremder, blinder Soldaten.

Alles in allem liest sich das wie ein tolles Setting für eine Handlung. Die jedoch kommt nicht in die Gänge. Auch der Held sehnt sich nach Abenteuern, muss sich aber mit Waldlauf und Basteln und Fernsehen zufrieden geben. Als begeisterter Kollagist setzt Stavaric in Brenntage Detail an seltsames Detail und strickt daraus den Flickenteppich einer Welt ohne Zukunft – eine Dystopie für geduldige Melancholiker. Das Ende kommt abrupt, beinah, als sei dem Autor seine scheintote Kunstwelt endlich auch fad geworden.

Michael Stavaric: Brenntage. München: C.H. Beck 2011. 232 Seiten. 18,95 Euro. Eine Leseprobe finden Sie hier.

Keine marktschädigende Bescheidenheit

(gt) – Da ist einer jung und sieht richtig gut aus, kann sich sympathisch freuen (über den Preis der Leipziger Buchmesse) und hat beeindruckende Lektürestapel bewältigt. Von einem richtig guten Verlag (Residenz) wechselte er zu einem, der eine richtig gute backlist hat (Suhrkamp) und auf der Suche ist nach dem Hermann Hesse des 21. Jahrhunderts, was Setz vom Wortausstoß her sicher leisten kann und nur der ist hier der Vergleichsmaßstab, denn Hesse und Setz sind sich so fremd wie Akelei und Eisblume – kurzum, ein für Verlag und Autor gleichermaßen aussichtsreiches Verhältnis wurde geboren. Die Leser haben das noch nicht so ganz mitgekriegt (5 % für Setz beim Publikumsvoting des Leipziger Preises) – aber ist „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ etwa für Menschen geschrieben, die beim Publikumsvoting mitmachen?!

Die Auftakterzählung heißt „Milchglas“, ihr Beginn weckt die Erinnerung an einen anderen Autor, einen nicht nur richtig guten, sondern den zeitgenössischen Autor schlechthin: David Foster Wallace. Trübe und schmuddelig wie in New York geht es in „Milchglas“ zu, das Klima ist von gebotener Entsetzlichkeit. „Kinder im Park sind wie Verstoßene“, heißt es gleich auf S. 11, und da seufzt man dann und nickt und fühlt sich schon zuhause. Graz ist grausam, vorwiegend von Widerlingen bewohnt und voller Rätsel. Erfahrungen lassen sich dort auch kaum machen, außer den eher glatten und reibungslosen, die bei der Konstruktion ambitionierter Dämmerräume entstehen, welche sich dann manchmal als überraschend überschaubar erweisen, etwa wenn in „Mütter“ ein Mütterstrich geschildert wird, wo der geschädigte Mann für Zuwendung und Zärtlichkeitsillusionen zahlt und ein bisschen regredieren darf. Ja, ja.

Unter marktschädigender Bescheidenheit leidet Setz nicht. Schon der Titel nimmt es immerhin mit Gabriel Garcia Marquez auf („Die Liebe in den Zeiten der Cholera“). Die Fundorte der Motti reichen vom „Hinweisschild in einem amerikanischen Zug“ bis zu Cesare Pavese, Konrad Bayer und den obligatorischen Popgruppen. E und U in zwanglosem Wechsel, weite Referenzräume, graue Geheimnisse, verweigerte Auflösungen, viel zu knobeln. Phantastisches wird geboten, Grausames, auch gekonnt Ironisch-Satirisches aus dem Literaturbetrieb. Sehr gewitzt unterläuft der Autor die Erwartungen des Lesers, z. B. in „Die Vase“, und treibt sein Spiel mit ihnen. Angesprochen fühlen muss sich niemand. Überhaupt muss niemand etwas fühlen. Offenbar sind nicht die Figuren wichtig, sondern der Akt des Schreibens.

Zwei einfache Sätze zum Schluss: David Foster Wallace erleuchtet unsere Wahrnehmung und trifft das Innere. Den passenden Grazer Satz entwerfe jeder selbst.

Clemens J. Setz: Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes. Erzählungen. Berlin: Suhrkamp 2011. 350 Seiten. 19,90 Euro. Eine Leseprobe finden Sie hier.

ATEMBERAUBEND

(hel) – ‚Wovon wir reden wenn wir von ATAK reden’ könnte der Untertitel des Kunstbuchs Meanwhile… lauten, in dem das 20-jährige Schaffen des Berliners Georg Barber, alias ATAK, als Comic-Künstler, Illustrator und Bastler in allen Kunst-Gassen auf atemberaubende Weise protokolliert wird. In jeder Hinsicht sorgsam erweist sich der Zürcher Verlag Walde + Graf in Konzeption und Umsetzung dieses Überblicks zu Ataks Werk: Das altmodisch-spröde Äußere des schönen Bandes passt perfekt zu einem Künstler, der seine Inspiration regelmäßig auf versteckten, magischen Dachböden zu holen scheint, die Begleittexte von Künstlerfreunden sind so exzentrisch wie das Werk selbst, und die Bilderwelten zeugen in vollem Umfang von jenen „Abenteuern für Erwachsene“, die Walde + Graf seit zwei Jahren, und ATAK schon immer, Fans und Lesern zuverlässig bieten. Entstanden ist das Kunst-Werk als Katalog zu einer Werk-Ausstellung, die im April beim Internationalen Comicfestival Fumetto in Luzern einen fulminanten Auftakt erhielt; in leicht reduziertem Umfang reist die Bild- und Objekt-Schau nun weiter nach Rom, Troisdorf bei Köln, Paris, Oberursel und weiteren Orten, wo das Genie, das Meanwhile… dokumentiert, live erfahren werden kann.

ATAK. MEANWHILE . . . WORKS FROM 1991 TO 2011. Walde+Graf Kunstbuchkooperation: Zürich, 2011. 128 Seiten. 24,95 Euro.

Hommage auf die Macht von Literatur

(fs) – Nicht viele Debüts werden für den Deutschen Buchpreis nominiert. Nino Haratischwili hat es 2010 mit ihrem Romanerstling Juja geschafft, in die Longlist aufgenommen zu werden. Dabei mag es geholfen haben, dass die 1983 in Tiflis geborene Haratschwili als Dramatikerin und Theaterregisseurin bereits beachtliche Erfolge vorweisen kann.

Die Autorin nimmt eine wahre Geschichte als Inspiration für ihr Gedankenspiel um die Authentizität und Wirkung von Literatur: In den 1970er Jahren hatte das Buch „Arsenikblüten“ von Daniella Sarréra eine ähnliche Wirkung wie einst Goethes Werther: Zahlreiche Leserinnen haben sich nach der Lektüre umgebracht wie die Autorin, die sich 1949 im zarten Alter von 17 Jahren vor einen Zug geworfen haben und mehrere Hefte mit ihrer Prosa zurückgelassen haben soll, die der Autor Frédérick Tristan schließlich publizierte. Ob Sarréra je gelebt hat, gilt als fraglich.

Nino Haratschwili verlegt das Erscheinungsdatum des folgenreichen Romans  ins Jahr 1953, ändert den Namen der Autorin in Sarré und den Titel des Buches in „Die Eiszeit“. Sie lässt verschiedene Figuren auf verschiedenen Zeitebenen mit diesem Roman in Berührung kommen. Da ist zum Beispiel die Studentin Olga, die 1986 mit dem Buch konfrontiert und danach von tiefer Lebensangst beherrscht wird – gleichzeitig meint sie, sich in dem Text wiederzuerkennen. Die Autorin lässt sogar sich selbst als „Ich (2005)“ zu Wort kommen, schildert, wie sie sich den fremden Text einverleibt, zu Eigen macht. Ferner durchziehen Zitate aus dem fiktiven Werk das Buch.

Juja ist ein vor allem zu Beginn sehr sperriger Roman, es braucht eine ganze Weile, sich in dem Geflecht der Ebenen zurechtzufinden, die (Frauen-)Figuren kennenzulernen und ihre jeweiligen Lebensumstände. Wenn man sich aber durch die ersten 40 bis 50 Seiten durchgearbeitet hat, kann man die Dialoge genießen und sich an einer Hommage auf die Macht von Literatur erfreuen.

Nino Haratischwili: Juja. Verbrecher Verlag 2010. 350 Seiten. 24,00 Euro. Eine Leseprobe finden Sie hier.