Geschrieben am 16. März 2011 von für Bücher, Litmag

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Kurzrezensionen

– diesmal mit Wolfgang Herrndorf, Gabriele Kögl, Martin Kessel, Marcel Maas, Anne Tyler und Kwame Anthony Appiah, von Jan Karsten (jk), Senta Wagner (sw), Anna Veronica Wutschel (avw), Frank Schorneck (fs) und Carl Wilhelm Macke (cwm).

Publikumsliebling

(jk). Ganz Literatur-Deutschland ist in Wolfgang Herrndorfs schmalen Roman „Tschick“ verliebt. (Fast) nur Lob in den Feuilletons der Printpresse, die Sternchen bei Lovelybooks und Amazon leuchten gelb, sein Autor hat dafür den Clemens-Brentano-Preis bekommen, er steht auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse – und ginge es nach einer Umfrage unter Internetnutzern, hätte er den bereits haushoch sicher. Ganz Deutschland? Ja, denn auch im kleinen, widerborstigen Pixeldorf CULTurMAG können sie gar nicht anders, als ganz und gar verzaubert zu sein:

Von der Leichtigkeit, mit der Herrndorf sein Roadmovie – die abenteuerliche Reise zweier 14-jähriger Jungs in einem gestohlenen Lada durch den wilden Osten – inszeniert.

Aber vor allem von der großartigen Erzählperspektive: Unzuverlässige Erzähler machen eh immer großen Spaß, aber hier passt es ganz besonders: Die Gewissheiten eines 14-Jährigen scheren sich nicht großartig um eine Verankerung in der Realität. Diese glücklich-unglücklichen Momente in der Pubertät, in der man Sachen einfach ganz doll weiß, auch, wenn sie gar nicht stimmen, hat Herrndorf sehr genau eingefangen. So ist der Ich-Erzähler Maik auf der einen Seite ein Bild von einem hormongebeutelten Heranwachsenden, voller Stimmungsschwankungen, mit Liebesproblemen und Identitätsrangeleien, der rätselnd die Erwachsenenwelt beäugt, andererseits wirft Herrndorf durch die Augen von Maik eine Art „universellen“, alterslosen Blick auf die Welt. In dieser Magie des „die-Dinge-zum-ersten-Mal-Betrachtens“ beginnt die Welt zu leuchten. Unendlichkeit bedeutet noch wirklich was, wenn ein 14-Jähriger zum ersten Mal in den Sternenhimmel starrt.

Das alles könnte schrecklich peinlich sein oder in Jugendbuchklischees untergehen, aber das tut es nicht. Weil Herrndorf einfach ein guter Autor ist, der weiß was er tut und seine Figuren immer wieder mit Distanz und Ironie betrachtet. Und weil Herrndorf genau den richtigen Ton trifft. Er orientiert sich zwar an der Jugendsprache, geht aber über reine Nachahmung hinaus, die Sprache ist geformt, sehr bewusst, ganz genau, individuell.

Das ist ganz konzentrierte Literatur, die funkelnd vom Leben erzählt. Herrndorf hat die Weisheit und die Weltsicht eines Heranwachsenden, in der vieles rätselhaft ist und alles aufgeladen mit Bedeutung, perfekt eingefangen und in eine universelle, leichtfüßige Abenteuergeschichte verwandelt, die witzig ist und spannend und berührend.

Wolfgang Herrndorf: Tschick. Berlin: Rowohlt Berlin 2010. 256 Seiten. 16,95 Euro. Zu einer Leseprobe (PDF) geht es hier. Die Homepage von Herrndorf finden Sie hier.

Berückend naturalistisch

(sw). Oh, bitte nicht vom Cover abschrecken lassen: Hierauf blickt das vielfach vergrößerte Auge eines alten Menschen den Leser aus seiner Höhle starr an. Wimpern haben Alte ja auch keine mehr, die Runzeln sind im blassen Teint erahnbar. Um das Seelenleben einer Mutter geht es im Buch, oder ist es die Mutterseele aus „mutterseelenallein“? Passt alles irgendwie zu dem Resümee eines gelebten Lebens, wie dem des Mutter- und Großmutter-Ichs aus dem Roman der Grazer Schriftstellerin Gabriele Kögl. Eine alte, verwitwete Frau/Bäuerin aus der tiefsten Dorfprovinz nimmt Anlauf, setzt an zu einer Suada und kommt nach schnellen 150 Seiten bei sich selbst und einem „Schwamm drüber“ an. Sich alles von der Seele reden, ein bisschen auf lebensklug machen, aber Seelenlagen auch noch ausloten, das will der Roman nicht.

Neun Kapitel eines prekären (Familien-)Lebens werden aufgeblättert, das geprägt ist von Verlusten durch Tod und Krankheit, Entbehrungen, unerfüllten Wünschen und dem Generationen-Hickhack, da stupst ein Thema das andere an, um immer wieder beim Gleichen/Alten zu landen. Anderen, sogar den Stars im Fernsehen oder der angeheirateten Nichte Waltraud mit Familie in Amerika, geht es auch nicht besser, scheint die Mutter hin- und hergerissen zwischen Neid und Unverständnis zu frohlocken. Zimperlich mit der eigenen Person geht unsere unverwüstliche Alte auch nicht um, sie wirkt dadurch schier physisch greifbar an Leib und Seele. Die umständlich wirkende, ausschweifende, plappernde Sprache ist perfekt, sie kommt ohne Pathos, nur mit wenigen Seufzern aus. „Es bleibt immer das gleiche, das uns glücklich oder unglücklich macht.“ Wir sind überzeugt von unserer sonderbaren, ja berückend naturalistischen Lektüre.

Gabriele Kögl stellte im März bei einer Buchpräsentation im Wiener Literaturhaus gemeinsam mit ihrem Lektor vom Wallstein Verlag, Thorsten Ahrend, ihren neusten und druckfrischen Roman vor: „Vorstadthimmel“. Darin orientiert sie sich thematisch vollkommen neu und doch nicht: Lebensträume zerplatzen auch in der Großstadt.

Gabriele Kögl: Mutterseele. Göttingen: Wallstein Verlag 2005. 155 Seiten. 16,00 Euro. Gabriele Kögl: Vorstadthimmel. Göttingen: Wallstein Verlag 2011. 276 Seiten. 17,90 Euro.

Literarische Ortsbesichtigung

(cwm). Es gibt nur wenige Verlage in Deutschland, die es schaffen, ihr einmal erreichtes hohes Niveau über Jahre hinweg zu halten. Ohne Frage gehört die „Friedenauer Presse“ zu diesen lobenswerten Klein-Verlagen, deren Novitäten man immer zur Lektüre empfehlen kann. Unter den Autoren sind ganz große Namen wie Anna Achmatova, Paul Celan oder Machado de Assis. Aber immer wieder stößt man in den so wunderbar gestalteten „Presse-Drucken“ auch auf Namen, die vielleicht nicht so bekannt sind.

Martin Kessel zum Beispiel, den Autor der kurzen, so herrlich leicht daherkommenden Erzählung „Am Laubenheimer Platz“, kannte ich nicht. Liest man im Nachwort, dass Kessel immerhin zusammen mit Joseph Roth, Siegfried Kracauer oder Franz Hessel zu den Mitarbeitern der legendären „Frankfurter Zeitung“ gehört hat, dann kann man diese Ignoranz nur selbstkritisch bedauern. Wie liebevoll er in diesem Text, der mehr eine literarische Ortsbesichtigung des Laubenheimer Platzes in Berlin denn eine Erzählung ist, die kleinen ‚Nebendarsteller‘ der großen Lokalgeschichte Berlins schildert! „Da hier die Zeit nahezu stillsteht, hat man auch Zeit, sich gelegentlich einmal umzublicken.“

Martin Kessel ist ein Autor, der es wirklich verdient hat, mit einer Neuedition seiner Bücher aus der Vergessenheit herausgerissen zu werden. Dass die „Friedenauer Presse“ hier einen ersten Schritt gewagt hat, kann man ihr nicht hoch genug anrechnen.

Martin Kessel: Am Laubenheimer Platz. Erzählung. Berlin: Friedenauer Presse 2010.  31 Seiten. 9,50 Euro.

In Stroboskopgewittern

(fs). Vier Freunde im zuckenden Aufblitzen der Stroboskoplichter und im treibenden Rhythmus stampfender Beats, zwischen Rausch und Ernüchterung, auf der Suche nach einem Sinn des Lebens. Eine ziemlich monotone Angelegenheit, könnte man meinen.

Doch dem 1987 in Oberhausen geborenen Autor geht es in seinem Debütroman „Play. Repeat.“ um mehr als die Schilderung von durchtanzten Nächten am Rande selbstzerstörerischer Drogenexzesse: „In meinem Text geht es um tiefer gehende Fragen nach Geschwindigkeit und Datenfluss, Reizüberflutung und Langeweile. Sehnsucht. Das Erwachsenwerden als Drohung, die Zitatensammlung in unseren Köpfen als Horizont. Musik und Drogen und Jugend sind dabei die Kulissen.“

Und schon der Untertitel „Ein Prosa-Set“ zeigt auf, dass der junge Autor seinen Schreibtisch wie ein DJ-Pult betrachtet. Allseits bekannte Eltern-Floskeln werden ebenso wie Bandnamen und Songtitel geloopt und gesamplet, Satz- und Gedankenfetzen blitzen durchs Soundgewitter. Die Prosa von Marcel Maas ist schnell & rhythmisch – Beat-Literatur im musikalischen Sinne.

Marcel Maas: Play. Repeat. Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt 2010. 124 Seiten. 17,90 Euro.

Der Geschmack von Granatapfel

(avw). „Wissen Sie zufällig, wann Granatapfelzeit ist, Liam?“, fragt der junge Mann den älteren Herrn arglos. Und stellt fest, wie bitter diese schier unessbare, faszinierende Frucht mit ihrem saftigen, von unzähligen Kernen durchsetzten Fruchtfleisch schmeckt. Eine Frucht, die seit Jahrhunderten als Symbol für Leben, Liebe und Lust gilt. Und gleich darauf scheint gar Liam Pennywells kurz zuvor auflodernde Leidenschaft auf seltsame Weise verflogen, er tritt den direkten Rückzug an und wird nie wieder auf das gegebene feurige Liebesbekenntnis zurückkommen. Generell scheint der irgendwie Stagnierte nicht nur seiner unglücklich verlaufenden Affäre, sondern seinem gesamten, recht ereignislosen Leben überaus gleichgültig gegenüberzustehen. Nur einmal entwickelt er eine kleine Obsession. Nach seiner Kündigung ist er aus Kostengründen in ein kleineres Appartement gezogen, da wird er nächtens überfallen, und ein Schlag auf den Kopf bringt ihn nicht nur ins Krankenhaus, sondern lässt ihn auch ohne Erinnerung an den Vorfall zurück. Getrieben von der Suche nach diesen verlorenen Stunden, hält das Leben einen gänzlich unerwarteten Wirbel für den einer flotten Damenriege ziemlich wehrlos ausgelieferten Helden bereit – er verliebt sich.

Mit subtiler Einfachheit und enormer sprachlicher Treffsicherheit erzählt Anne Tyler aus dem Alltag eines Stoikers, der durch einen Schlag auf den Schädel beginnt, sein eigenes, aus Angst oder Bewusstheit vertriebenes Leben zunächst zu vermissen, dann zu betrauern und schlussendlich neu zu entdecken. Das Minenfeld an der Heimatfront Familie, die unendlichen Missverständnisse, die marode endlose Jagd nach Glück sowie das scheinbare Feststecken in der Warteschleife Alltag schildert Tyler mit sicherem Blick. Und es gelingt ihr auf warmherzige, tragikomische Art zu verdeutlichen, dass Unbeschwertheit nicht immer gelingen muss. Ein wenig hängt „Verlorene Stunden“ in seinem leicht überladenen Arrangement durch, doch zugleich kann man eine sehr versöhnliche Hymne der Autorin, die sich weise allen Urteils zu enthalten scheint, auf das Leben vernehmen. Der Roman ist sicherlich nicht als Meisterstück im Gesamtwerk der Autorin zu lesen, bezaubert indes mit treffenden Beobachtungen einer banalen Welt, mit skurrilen Figuren in außergewöhnlichen Alltagssituationen, kurzum mit der sehr typischen, einmaligen Anne-Tyler-Prosa, deren Magie nicht nur von John Updike oder Nick Hornby verehrt wird.

Anne Tyler: Verlorene Stunden (Noah’s Compass, 2009). Roman. Deutsch von Simone Jakob. Zürich: Kein & Aber 2010. 303 Seiten. 19,90 Euro.

To whom it may concern

(cwm). Wenn heute von der Notwendigkeit von ‚Werten’, von ‚Ehre’ und ‚Moral’ die Rede ist,  zuckt man immer zusammen. Sind es doch fast immer jung- und altkonservative Kreise, die mehr Respekt und Ehrlichkeit vor allem von den Jüngeren fordern, um den endgültigen Untergang des Abendlandes noch abzuwenden. Wenn einem allerdings von einem Autor wie Kwame Anthony Appiah erklärt wird, „wie es zu moralischen Revolutionen kommt“,  wird man hellhöriger. Als Präsident des amerikanischen PEN-Zentrums verteidigt er Tag für Tag das urdemokratische Recht auf Presse- und Meinungsfreiheit.

Mit großer schriftstellerischer Eleganz und einem souveränen historischen Wissen,  versucht er den Begriff der „Ehre“ aus dem scheinbar festen Besitz des konservativen Bürgertums zu lösen. „ Es bedarf eines Gefühls für Ehre,… um etwas zu unternehmen, wenn andere auf der eigenen Seite niederträchtige Dinge tun. Es bedarf eines Gefühls für Ehre, um sich durch das Tun anderer mitbetroffen zu fühlen.“

Und weiter: „Wenn jemand keine Scham empfindet, falls er gegen einen Ehrenkodex verstößt (oder zumindest, falls er gravierend dagegen verstößt), dann zeigt dies, daß er dem Ehrenkodex nicht anhängt. Wir sprechen in diesem Fall von Schamlosigkeit“. To whom it may concern… Sehr lesenswert ganz besonders das den „Kriegen gegen Frauen“ gewidmete Kapitel, in dem der in manchen Weltregionen leider immer noch aktuelle „Ehrenmord-Kodex“ vorgestellt und verurteilt wird.

Kwame Anthony Appiah: Eine Frage der Ehre oder wie es zu moralischen Revolutionen kommt. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. München: C.H. Beck-Verlag 2011. 270 Seiten. 24,95 Euro.