Geschrieben am 5. Dezember 2015 von für Bücher, Litmag

LitBits: Neue Sachbücher von Geipel & Walther, Schellnhuber, Haus Bartleby (HG), Werner & Schalansky, Hafner, NZZ, Erzherzog von Österreich-Toskana, Diekmann

Neue Sachbücher von Ines Geipel, Joachim Walther („Gesperrte Ablage. Unterdrückte Literaturgeschichte in Ostdeutschland 1945 – 1989“), Hans Joachim Schellnhuber („Selbstverbrennung. Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff“), Haus Bartleby (Hg.), („Sagt alles ab!. Plädoyers für den lebenslangen Generalstreik„), Florian Werner, Judith Schalansky (Hg.) („Schnecken“), Urs Hafner („Subversion im Satz. Die turbulenten Anfänge der Neuen Zürcher Zeitung“), NZZ Geschichte („Die Akte F. Max Frisch“), Ludwig Salvator Erzherzog von Österreich-Toskana („Mallorca“) und Kai Diekmann (Hg): („Das BILD-Buch“) – besprochen von Michael Höfler (MH) und Alf Mayer (AM).

geipel_ablageDer fünfte Zensor

(AM) Eine „kalte Bücherverbrennung“ nennen die Autoren dieses verdienstvollen Bandes die unterdrückte Literaturgeschichte in Ostdeutschland 1945-1989. „Gesperrte Ablage“, das bedeutete in DDR-Archiven Verschlusssache, da war weggesperrt, was niemand mehr sehen sollte. Ines Geipel weiß: „Die Literatur in der DDR war vielfältiger, aber auch ambivalenter, als es die publizierten Texte dieser Zeit vermitteln.“ Zusammen mit Joachim Walter baute sie das „Archiv der unterdrückten Literatur in der DDR“ (AUL) auf, es befindet sich in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (BStA) in Berlin, umfasst über hundert Vor- und Nachlässe von in der DDR unveröffentlicht gebliebenen Autorinnen und Autoren. Vieles wird für immer fragmentarisch bleiben: Wie viele künstlerische Versuche abgebrochen, wie viele Texte und wie viel an Lebenswerk zerstört wurde, das lässt sich kaum mehr klären.

1984 benannte Erich Loest in seinem im Westen erschienenen Bericht „Der vierte Zensor – Vom Entstehen und Sterben eines Romans in der DDR“ neben der staatlichen Zensur auch die der Verlage, die Selbstzensur und die Parteizensur. Es gab aber noch einen fünften Zensor: die Endkontrolle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), einen Angstraum Orwellscher Größe, Geipel und Walther haben für ihr Buch insgesamt 70 000 Manuskriptseiten ausgewertet, vielfältig recherchiert. Ihre Bilanz: „Bestimmte Stoffe und Ästhetiken, ja, alles wirklich Nonkonforme, Experimentelle, Widerständige wurde konsequent behindert, unterdrückt, verfolgt, verschwiegen, abgelegt und weggesperrt. Wenn Kunst etwas mit Freiheit zu tun hat, dann ist dies die wahre Literaturgeschichte Ostdeutschlands.“

Auf rund 200 Seiten werden in „Gesperrte Ablage“ an die hundert Autorinnen und Autoren mit Kurzbiografien, Archivbestand und Veröffentlichungen vorgestellt. Ines Geipel hat anderweitig zu bestimmten unterdrückten Autoren publiziert und manche in der Reihe „Die verschwiegene Bibliothek“ wieder zugänglich gemacht.

Ines Geipel, Joachim Walther: Gesperrte Ablage. Unterdrückte Literaturgeschichte in Ostdeutschland 1945 – 1989. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2015. 432 Seiten. 24,90 Euro. Zum Archiv der unterdrückten Literatur in der DDR.

schellnhuber_selbstverbrennungWir Selbstmordattentäter

(AM) Das Zeitfenster, die Erderwärmung auf zwei Grad Celsius zu begrenzen – eine kaum ausreichende Maßnahme, die dennoch wohl nicht zu bewerkstelligen ist – und die wirtschaftlichen und sozialen Schäden des Klimawandels einzudämmen, lässt nur noch wenige Jahrzehnte Zeit zum Handeln. Deshalb ist der Klimagipfel jetzt im Dezember 2015 in Paris für uns alle so wichtig. Die Staaten der Welt müssen endlich gemeinsam und verbindlich handeln. Das ist weit wichtiger noch, pardon, als die Sorge um den Terror. In den Industrie- und Banketagen werden sie froh sein, dass „das Klima“ gerade wieder einmal zweitrangig scheint. So wie es aber Selbstmordattentäter zu Hauf gibt, so ist unser ganzes herkömmliches Wirtschaften letztlich auf nur eines angelegt: Selbstverbrennung.

Es muss alarmieren, dass ein äußerst gestandener Wissenschaftler und Klimaforscher seinem kondensierten Lebenswerk diesen Titel gibt. Jahrelang hat er an diesem inhaltsschweren Buch gearbeitet, schon vor fünf Jahren sollte es unter dem Titel „Stühlerücken auf der Titanic“ erscheinen. Alleine in diesen letzten fünf Jahren aber, so der Autor, „sind ungeheuerliche Dinge geschehen, die uns ins Ohr brüllen, dass die vertraute Welt aus den Fugen gerät“. Der international renommierte Hans Joachim Schellnhuber, Gründungsdirektor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), legt mehr als eine der üblichen Warnschriften vor, er dringt zu den kulturellen Wurzeln dieser selbstherrlichen Igno- und Arroganz vor, die aus Gier und Torheit – und immer noch weitgehend ungebremst – auf die kollektive Selbstverbrennung zusteuert.

Ist Ihnen klar, dass 2014, allen partiellen Klimaschutzmaßnahmen zum Trotz, der CO2-Ausstoß der Welt seinen bisher höchsten Stand erreichte, dass auch in Deutschland so viel (subventionierte) Kohle wie noch nie verfeuert wurde – während die Wetteraufzeichnungen weltweit die höchsten je gemessen Werte verzeichnen?

Hans Joachim Schellnhuber: Selbstverbrennung. Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff. C. Bertelsmann Verlag, München 2015. 784 Seiten, 12 farbige Bildteile a 4 Seiten. 29,99 Euro. Informationen zum Buch und zum Autor.

nautilus_pbDer Ausstieg muss noch geübt werden

(MH) Dieses „Buch über Karriereverweigerung und das Ende der neoliberalen Epoche“ rennt offene Türen ein in Zeiten, in denen die Fassaden von Demokratie, Humanität, „Wachstum und Wohlstand“ gewaltig zu wackeln beginnen. Im Vorwort berufen sich die Herausgeber auf Gregor Gog, schillernder Nonkonformist und „König der Vagabunden“, der 1929 zum „lebenslangen Generalstreikt“ aufgerufen hatte. Die Herausgeber sind Autoren und Kulturschaffende vom „Haus Bartleby“, dem „Zentrum für Karriereverweigerung“.

Den Auftakt des ersten Teils machen Deichkind mit ihrem Text von „Bück Dich hoch“, einem Lied, das als solches wuchtig ins Ohr geht, dem man als gelesenem Text aber die Versmaßverweigerung deutlich anmerkt. Dann zeigt Mira Assmanns sachlich geführtes Interview mit einem Acht- und einer Zehnjährigen, dass zumindest manche Kinder besser nein zu sagen vermögen als Erwachsene und dies obendrein vernünftig zu begründen wissen. Es folgen Texte über die Mechanismen, die uns am Aussteigen hindern; über Alternativen in Nichterwerbs- und kreativer Arbeit und die Stupidität kanonischen Lernens in der Schule. Anne Waak bringt in diesem Kontext gar ein Plädoyer für Polyamourie unter.

Die Beiträge im zweiten Teil, „Arbeit in Anbetracht des nahenden Endes“, kommen analytischer daher und suchen in Geschichte und Literatur Erklärungen für das Funktionieren des eigentlich Nichtfunktionierenden. Bemerkenswert ist David Graebers (Autor des spektakulären Buches „Schulden – die ersten 5000 Jahre“) Text über „Bullshit- Jobs“: sozialste Jobs seien am schlechtesten, asozialste am besten bezahlt. Allerdings findet sich der Text schon seit 2013 auf strikemag.org. Aus 2015 muss Yanis Yaroufakis’ darauf folgender „Bescheidener Vorschlag“ sein, denn er hat ihn auf dem Weg von Verhandlungen in Berlin zurück nach Athen geschrieben. Darin prophezeit er den derzeit erlebten Zerfall Europas, bei dem die „Europäer die EU bald als den Feind betrachten und den Nationalismus als einzige mögliche Alternative“.

Der Schlussteil „Sag alles ab!“ bringt nochmal ähnlich gedachte Reflektionen zur Problemgemengelage und endet mit der Aufforderung der Herausgeber, auf kapitalismustribunal.org für „eine faire Abrechnung“ eine eigene Anklage zu formulieren.

„Sag alles ab!“ bietet insgesamt wenig Überraschendes. Die Beiträge sind allzu gleichgerichtet gegen den Strich gebürstet, wobei manche Wiederholungen in dem Vielautoren-Format schwer zu vermeiden sind. Dem in Kapitalismuskritik Belesenen fehlen die wirklich neuen Gedanken, die hier beschriebene Kreativität im Denken, Aufrütteln und Ausprobieren müsste mehr gezeigt als gefordert werden. Auch täten mehr Witz und Sarkasmus (jenseits gefälligem Kokettieren mit der Einsicht, dass man selbst Teil des Systems ist) dem Zurechtkommen mit der zerfallenden Weltordnung gut. Dabei oszilliert die Sprache oft zwischen neoliberalem Falschvokabular und akademischem Schwurbelstil. Dies alles zeigt aber, wie wichtig es ist, richtig auszusteigen, auch wenn dies noch etwas Übung benötigt.

Haus Bartleby (Herausgeber): „Sagt alles ab!“. Plädoyers für den lebenslangen Generalstreik. Nautilus Flugschrift. Edition Nautilus 2015. 160 Seiten. 14,90 Euro.

werner_schneckenNur Mut, Hinsehen lohnt sich

(AM) Patricia Highsmith ging, so ist von ihr überliefert, nie ohne die Gesellschaft ihrer Gehäuseschnecken auf Reisen. Meist führte sie die Tiere in der Handtasche bei sich, bei Flugreisen in ihrem Büstenhalter. Florian Werner, der uns bereits höchst unterhaltsam über „Die Kuh“ belehrte, schmuggelte für dieses Buch seine Nereide getaufte Bänderschnecke in der Hosentasche durch den Zoll, „adrenalingetränkt, als hätte ich ein Pfund Kokain am Körper“. Henry Morton Stanley zahlte, als er Afrika durchquerte, für seine Träger sechs Kaurischnecken pro Tag, in der Zeichentrickserie „Biene Maja“ ist sie das einzige Tier mit Universitätsabschluss, Leonhard Cohen besingt ihre Geschwindigkeit in „Slow“. Schnecken, wissenschaftlicher Name Gastropoda, sind die artenreichsten Weichtiere. Über 105.000 Spezies sind bekannt, immer noch kommen neue dazu, manche können über das Wasser gehen. Warum sich mit ihnen beschäftigen? Ganz einfach: Weil die von Judith Schalansky herausgegebene fulminante Reihe „Naturkunden“ bei Matthes & Seitz sich diesem Tier als Band 20 widmet. CulturMag hat diese in der deutschen Verlagslandschaft einzigartige Reihe bereits anlässlich der „Eulen“ gewürdigt.

Kein Grund also, dieses Buch nicht anzufassen, auch wenn das Alte Testament die Schnecke, da sie „auf dem Bauche kriecht“, als unreines, nicht zum Verzehr geeignetes Tier verdammte (3 Mose 11,42), sie in den verschiedensten Kulturen gleichzeitig als Symbol der Trägheit, der Eitelkeit, der Wollust und der unbefleckten Empfängnis, der Auferstehung und der Langsamkeit gilt oder Colonel Kurtz in „Apocalypse Now“ immer wieder in seinen Albträumen eine Schnecke auf der Klinge eines Rasiermessers kriechen sieht. Also auf zur Weinbergschnecke (größte europäische Landgehäuseschnecke), zur Herkuleskeule, zur Spanischen Wegschnecke, zur violetten Fadenschnecke, zum Struppigen Chiton oder zur großen Achatschnecke, deren Gehäuse über 20 Zentimeter lang werden und die bis zu einem Pfund auf die Waage bringen kann. Erkenntnistheoretisch hält dies Buch da mit.

Florian Werner, Judith Schalansky (Hg.): Schnecken. Band 20 der Reihe Naturkunden. Flexibler Einband, Kopfschnitt, fadengeheftet, Kleinoktav-Format. Matthes & Seitz, Berlin 2015. 151 Seiten. 18,00 Euro. Zum Buch, zur Reihe „Naturkunden“, zur Herausgeberin und zu Schnecken im Allgemeinen. Mehr CM-Schnecken hier.

Hafner_nzzMigranten und Revolutionäre

(AM) 1974 bis 1976 machte ich bei der „Augsburger Allgemeinen“ ein volles Zeitungsvolontariat. Nie werde ich vergessen, welchen Stolz uns der damalige Chefredakteur damit einimpfte, dass er immer wieder betonte, sogar Marx und Heine hätten einst für die Zeitung geschrieben. „Subversion im Satz“, welch ein Titel. Welchem Journalisten und vielleicht ja auch manchem Leser ginge da nicht das Herz auf? Man muss daran erinnern: Zeitungen waren einmal Medien, die alles, aber wirklich alles andere als auf regierungsamtlichem Kurs waren.

Dem Verlag Neue Zürcher Zeitung scheint es ein Ehre zu sein, dass der Frühneuzeit-Historiker Urs Hafner, angeregt von der Soziologin Claudia Honegger, sich an die Erforschung der turbulenten Anfänge dieser Zeitung gemacht hat. Das Buch ist bestens ausgestattet, auch inhaltlich solide Schweizer Wertarbeit.

Es waren ja Migranten und Revolutionäre, die unsere Zeitung begründet haben, sagte mir Simon Rüttimann von NZZ Libro stolz auf der Buchmesse. Sie kamen aus Deutschland. Der 1968 geborene Urs Hafner führt durch die ersten 18 Jahre der NZZ, als im zwinglianischen Zürich Kirche und Staat noch nicht getrennt, freie lokale Berichterstattung weitgehend unmöglich war. Hundert Peitschenhiebe (Riad lässt grüßen) drohten im Wiederholungsfall für kritische Bemerkungen, oder gar die Deportation. In Deutschland verfolgt und verfemt, eingeengt um am System verzweifelt, hofften diese ersten Journalisten der heute ältesten Zeitung der Schweiz und einer der ältesten politischen Zeitungen weltweit auf eine „aufgeklärte“ Welt. Kämpften schreibend dafür, bissig und belesen, rebellisch und satirisch, trotzten der Zensur.

Johann Kaspar Riesbeck, Johann Michael Armbruster, Peter Philipp Wolf und Franz Xaver Bronner lauten die Namen der ersten Redaktoren der NZZ, sie betreuten von 1780 bis zur Helvetischen Revolution 1798 die „Zürcher Zeitung“, wie sie damals hieß. Als Journalisten blieben sie soziale Außenseiter, keiner von ihnen starb reich oder allzu anerkannt. Aber sie legten unter widrigen Umständen die Grundlagen eines modernen, politischen und unabhängigen Journalismus. Im Vergleich mit der jungen, von subversiven Anspielungen oft sprühenden „Zürcher Zeitung“ sehen die meisten heutigen Medienerzeugnisse eher alt aus. Damals schon im Blick: die ganze damalige, wenn auch durch den Kolonialismus vermittelte Welt.

Urs Hafner: Subversion im Satz. Die turbulenten Anfänge der Neuen Zürcher Zeitung (1780–1798). Verlag NZZ-Libro, Zürich 2015. 208 Seiten, 21 Illustrationen. 38 sfr/ Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Der Autor darüber hier.

nzz_geschichteMax Frisch ist wütend

(AM) Wo wir gerade über die NZZ sprechen: Wann hat es in der Bundesrepublik einen solchen furiosen Zeitschriftenstart, wie diesen gegeben? Zumal den einer Zeitschrift aus einem Zeitungsverlag? Ach Schweiz, du hast es besser, denke ich zum wiederholten Mal.

Mit einer Auflage von 20.000 Exemplaren ging im April 2015 „NZZ Geschichte“ an den Start. Es war ein Wagnis. Die „Neue Zürcher Zeitung“ erweiterte damit ihre publizistische Produktepalette um ein auf historische Themen fokussiertes Magazin. Als im Oktober 2015 Heft Nr. 3 erschien, waren bereits alle Redaktions- und Verlagserwartungen weit übertroffen: über 70.000 Abonnenten, das ist in dem Acht-Millionen-Land gigantisch. Dies bei einem Kiosk-Preis von 18 Fränkli und einem Jahresabo-Preis (4 Ausgaben) von 58.

Die Hefte und Inhalte sind alles andere als bieder, geschichtskleisternd oder nostalgisch, die Texte reichen von Essays über Streitgespräche bis zu historischen Rätseln. Auf 120 Seiten Heftumfang graben namhafte Autoren in die Tiefe, zu bestimmten Themen diskutiert die Historikerzunft auch mit sich selbst. All das lesbar, von Tyler Brûlé und seiner Londoner Kreativagentur Winkreative in Anklang an Buchlayouts gestaltet. Publizistisch wird das Magazin von Peer Teuwsen verantwortet, dem Leiter neue publizistische Produkte bei der NZZ. (Auf die NZZ-Filmzeitschrift „Frame“ hatte CM bereits 2014 hingewiesen.)

Heft 2 von „NZZ Geschichte“ hatte als Titelthema, wie die Reformation die Schweiz reich machte, hatte ein langes Gespräch mit Fritz Stern über seine gestohlene Heimat und, so die Überschrift, den „Polizeistaat USA“, beschäftigte sich mit der „Invasion der Coolen“, den rund 300.000 US-Soldaten, die zwischen 1945 bis 1949 die Schweiz besuchten und Wegbereiter der Amerikanisierung waren. Heft 3 wartete mit einem Hammer auf, die Berichterstattung darüber fand den Weg auch in andere Zeitungen: Am 1. August 1990, kurz vor seinem Tod, erhielt Max Frisch Einsicht in seine Fiche (seine Akte beim Staatsschutz). Wütend setzte er sich an die Schreibmaschine, um die Einträge zu kommentieren. Es wurde sein allerletztes Manuskript. „NZZ Geschichte“ Nr. 3, veröffentlichte im Oktober daraus Auszüge und Faksimiles. Zum Beispiel:

„Fiche von Bundesanwaltschaft erhalten!
(1 August 1990)
Die erste Zeile ist korrekt:
– Name: Frisch.
Die zweite Zeile liederlich:
– Vorname: Max
Im Pass heißt es Max Rudolf…
Meine Bemerkung: ein Gehilfe bei der Bank, der nicht einmal Adressen richtig abschreibt, geschweige denn imstande ist ein Zivil-Formular auszufüllen ohne Fehler in jeder zweiten oder dritten Rubrik, würde begreiflicherweise entlassen. Hingegen in der Taubenstrasse 16, 3003 Bern, taugt er als Beamter im Schaatsschutz.“ (Orthografisch so in Frischs Manuskript.)
Die Zeitschrift beließ es nicht beim Zitieren. Ein Artikel befasste sich mit „Ignoranz als Staatsschutz?“, Julian Schütt schrieb über das Verhältnis von Frisch und der NZZ und zwei Redakteure moderierten ein Streitgespräch in Sachen Überwachung zwischen den obersten eidgenössischen Datenschützer und dem für Frischs Überwachung zuständigen früheren Chef der Bundespolizei. Da kann man nur den Hut ziehen.

NZZ Geschichte: Die Akte F. Max Frisch über seine Fiche und den Schweizer Staatsschutz. Nr. 3, Oktober2015. Verlag NZZ Geschichte/ Neue Zürcher Zeitung. 120 Seiten, 18 sfr/ Euro. Erscheint vierteljährlich, erhältlich im Abonnement oder in der Schweiz am Kiosk. Weitere Bezugsinformationen im Internet. Heft 4 erscheint am 14. Januar 2016.

salvatore_mallorcaHingabe an die Insel

(AM) Diese Prachtausgabe fällt klar in die Abteilung schöne Weihnachtsgeschenke: Mallorca, wie man es noch nicht gesehen hat und noch nicht beschrieben kennt. Auf schmeichlerischem Papier gedruckt, edel gestaltet, mit den wunderschönen Aquarellen der Originalausgabe versehen, verfasst vom ersten großen Liebhaber der Insel, vom unkonventionellen Ludwig Salvator Erzherzog von Österreich-Toskana. Ein Traum von einem Buch, mit großer Hingabe und Aufmerksamkeit geschrieben, zwischen 1870 und 1890 entstanden. Ludwig Salvator (1847 bis 1915) war ein Weltenbummler und Forscher, schrieb weit über 50 Bücher, in denen er seinen Lesern die Schönheit der Welt nahezubringen suchte. Der Weltausstellung wegen reiste er zum Beispiel nach Melbourne; aus einem dreiwöchigen Abstecher nach Tasmanien entstand das exzellente Stadtporträt „Hobarttown“. Seinem engen Freund Jules Verne diente der „Archiduque“ als Vorlage für den Helden in „Matthias Sandorf“ (1885).

Von seiner Lieblingsinsel Mallorca aus erforschte Ludwig – im besten Humboldt’schen Sinne – den ganzen Mittelmeerraum. Das siebenbändige, rund 6000 Seiten umfassende Monumentalwerk „Die Balearen. In Wort und Bild geschildert“ erschien zwischen 1869 und 1891. Für die ersten beiden Bände erhielt er auf der Pariser Weltausstellung 1878 die Goldmedaille. Das hier vorliegende Werk speist sich aus diesen Bänden, die erzherzoglichen Texte sind vergnüglich zu lesen. Ludwig beschreibt die geographischen Verhältnisse, Klima, Fauna und Flora, Meteorologie, Geschichte, Volkskunde, Architektur, Landschaften und Bevölkerung, ihre Nahrung, Kleidung, Lieder und Gedichte, Spiele und Gebräuche, Weinbau, Viehzucht, Jagd und Fischerei, Schifffahrt und Schiffbau, Industrie und Handel, das Verkehrswesen, Behörden und Abgaben. Ludwig mochte besonders den Westen der Insel, er erwarb die Küstenstraße und viel Land zwischen Valldemossa und Deià, stattete sie mit heute noch genutzten Aussichtspunkten aus, „Miradores“ genannt. In seinem Landhaus S’Estaca wohnt der Hollywoodstar Michael Douglas. Er ist ein großer Verehrer des Erzherzogs und seiner Forschungen.

Ludwig Salvator Erzherzog von Österreich-Toskana: Mallorca. Die schönste Insel der Balearen, geschildert in Wort und Bild. Hardcover, Prachtformat, Fadenheftung, Lesebändchen, 75 farbige Abbildungen. Corso Verlag, Wiesbaden 2015. 480 Seiten. Subskriptionspreis bis 14.1.2016, anschließend 78,00 Euro. Verlagsinformationen zum Buch, zum Erzherzog und zu seinem Werk.

das bild-buchAuch den Dritten Weltkrieg …

(AM) Liebe BILD, warum hast du so große Buchstaben, groß wie die Geweihe von Elchen und Hirschen? Warum bist du so laut? Das fragt sich Franz Josef Wagner in seinem Vorwort, die Antwort gibt er gleich selbst: „Wenn du ein Mensch wärst, vielleicht Saint-Exupérys „Kleiner Prinz“, dann würdest du sagen: Ich schreie gegen den Wind.“ Wagner schreibt gerne für BILD, „weil ich schreien darf“.

760 BILD-Titelseiten aus mehr als 60 Jahren, von Juni 1952 bis August 2015, natürlich ist das ein Stück Kulturgeschichte. Das war Deutschland? Aber ja doch. Auch. 100 Euro hat der großformatige Band einst als Hardcover gekostet, die Sammlerausgabe mit historischen Beigaben gar an die 2.000 Euro, jetzt liegt die Volks- und/oder Studienausgabe vor.

Hundert Jahre nach Dada findet sich hier manch konkrete Alltagspoesie. Zwar fehlt meine Lieblingsschlagzeile aus der RAF-Zeit – „Köpcke: Auch den Dritten Weltkrieg sage ich ohne Panik an“ -, aber immerhin kommt der frühere Chefsprecher der Tagesschau am 5. Januar 1978 vor mit: „Köpcke: Ich habe nicht geraschelt!“ Um das klarzustellen, werde er zum Anwalt gehen, er habe sich auch „nicht geweigert, Nachrichten von rosa Papier zu lesen“. All dieser Zoff bei der ARD nur, weil Klaus Stephan ihm als unliebsamer Partner zur Seite gestellt worden war. Aber wer redet heute noch von dem?

Wir sind noch mal davon gekommen, so kann man viele der Headlines bilanzieren. „Terroristen vergiften Apfelsinen“ / „Ameisen fraßen Krebskranken“ / „Baby im Schlussverkauf geraubt“ / „Stürzt MIR auf Deutschland?“ / „Nach der Orion-Serie: Eine Frau zittert: Fernseh-Frogs verfolgen mich!“ / „Wie schwul ist Deutschland?“ / „Deutscher Zoo in Flammen“ / „Das Bernstein-Zimmer gefunden“ / „Forscher enthüllen: Hitlers Witwe lebt“ / „Starb ein falscher Heß in Spandau?“ / „Di mit Reitlehrer im Heu“ / „Brando frisst sich tot“ / „Juhnke unheilbar geisteskrank“ / “Neue Liebestechnik macht Frauen glücklicher“ bis hin zu „Bundesliga-Hammer: 1. Tor mit Penis geschossen“. Dies gelang, weiß BILD, im November 2007 Mario Gomez bei Stuttgart gegen Bayern, dank seines Körpereinsatzes ging die Partie 3:1 für die Schwaben aus. Aber: „Gomez: Es tat höllisch weh.“

Kai Diekmann (Hg): Das BILD-Buch. Verlag Taschen, Köln 2015. Softcover, 27,5 x 39 cm. 788 Seiten, viele Schlagzeilen. 33,00 Euro.

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