Diesmal ganz sachlich, soweit das unseren Rezensenten möglich war: zwei Mal Literaturgeschichte, lesbar, dazu viele Schurken und drei Helden. Non fiction von Urs Bitterli, Martin Thomas Pesl, Till Zimmermann / Nikolas Dörr und Geoffroy de Lagasnerie – besprochen von Borgward Hoberman (BH) und Alf Mayer (AM).
Romane als Dokumente ihrer Zeit
(AM) Dies ist keine Literaturgeschichte, welche die Stilentwicklung verfolgt. Dies ist tatsächlich „eine etwas andere Kulturgeschichte“, wie der Untertitel es verheißt. „Nie zuvor in der Weltgeschichte hat der Mensch in einem kurzen Zeitraum so viel Gutes geleistet und so viel Schlimmes angerichtet wie zwischen 1900 und 1945, dem Jahr des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki“, heißt es im Vorwort.
Urs Bitterli war ordentlicher Professor für Allgemeine Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich, emeritiert seit 2001, frei also für Lust und Laune und Herzensprojekte. Die Idee zu diesem Buch entstand, nachdem er schon eine Weile auf dem journalistischen Mehrwert-Portal Journal21.ch die Kolumne „Alte Bücher, neu besprochen“ führte. Romane versteht er als Dokumente ihrer Zeit. Für „Licht und Schatten über Europa 1900 – 1945“ hat er fünfzig Bücher von Schriftstellern und Gelehrten (ein allmählich aussterbendes Wort) ausgewählt, die zwischen 1900 und 1950 in Europa erschienen sind oder auf diese Zeitperiode Bezug nehmen. Besonders „geschichtshaltig“ mussten sie ihm für die Auswahl erscheinen. Er stellt sie in ihrem Kontext vor, beschreibt ihre Wirkungsgeschichte. Nicht um neue Thesen oder Theoriebildung geht es ihm, sein Buch wendet sich nicht an Spezialisten, sondern „an Leser, die an Geschichte und Literatur interessiert sind“. Wenn er dazu beitragen könne, dass das eine oder andere der von ihm auf meist vier bis fünf Seiten vorgestellten Bücher wieder gelesen wird, sähe er sein Ziel erreicht, meint er im Vorwort.
In der Tat ist dies ein sehr lesbares, sehr lesenswertes, breit aufgestelltes und mit vielen Einsichten, Hinweisen und Informationen aufwartendes Buch geworden. Acht Hauptkapitel, durch je einen Überblickstext eingeführt, sehen sich den Ersten und Zweiten Weltkrieg die Zwischenkriegszeit und den Holocaust in deren literarischer Vermittlung an. Émile Zolas „Ich klage an“, Heinrich Manns „Professor Unrat“, John Galsworthys „Forsyte Saga“, Maxim Gorkis „Mutter“, Peter Rosegggers „Als ich noch der Waldbauernbub war“ und Jacob Burckhardts „Weltgeschichtliche Betrachtungen“ machen den Auftakt. Es folgen für den Ersten Weltkrieg Thomas Mann, Erich Maria Remarque, Joseph Roth, Ivo Andric und Romain Rolland. Besprochen werden Werke wie „Brave New World“ von Aldous Huxley, Vicky Baums „Menschen im Hotel“, „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert, Solschenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ oder „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ von Hannah Arendt. Immer wieder ist es wohltuend und gelegentlich überraschend, aus sozusagen Schweizer Sicht auf das Weltgeschehen zu blicken. Die Autorenauswahl ist klug, schaut über manchen Tellerrand. „Das Böse auf Erden“, wird Jacob Burckhardt von 1905 zitiert, „ist allerdings ein Teil der großen weltgeschichtlichen Ökonomie: es ist die Gewalt, das Recht des Stärkeren über den Schwächeren, vorgebildet schon in demjenigen Kampf ums Dasein, welcher die ganze Natur, Tierwelt wie Pflanzenwelt, erfüllt, weitergeführt in der Menschheit durch Mord und Raub …“
Urs Bitterli: Licht und Schatten über Europa 1900 – 1945. Eine etwas andere Kulturgeschichte. Verlag Neue Zürcher Zeitung/ NZZ Libro, Zürich 2016. 352 Seiten, Lesebändchen, 48 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
Schurken, ganz lieb
(BH) Klassisch österreichischer Schmäh, Literaturkunde von der angenehm plauderhaften Seite, mit Ironie gewürzt, das kann Martin Thomas Pesl. Von 2008 bis 2015 stellte er in jeder Ausgabe des Magazins „Wiener“ einen Klassiker der Weltliteratur vor. Daraus entwickelte sich die Idee, auch den Schurken einen Raum zu geben. So entstand dieses Buch. „Die 100 genialsten Schurken der Weltliteratur“ verspricht der Untertitel. Pesls Definition von Schurke umfasst „auch Schurkinnen, Bösewichte, Unsympathen, Antagonistinnen, Fieslinge, Gauner, Egomanen, üble Hunde und sonstige widrige Mächte“. Zwölf Kategorien macht er für sie aus: die Gierigen, die Rachsüchtigen, die Despoten, die Berserker, die Egoschweine, die Erziehungsberechtigten, die fatalen Frauen, die Psychopathen, die Ungreifbaren, die verrückten Wissenschaftler, die Über- und Unterirdischen und die Könige des Verbrechens. Die Auswahl dabei ist manchmal eine Überraschung und manchmal ganz schön schurkisch.
Die lexikalisch anmutenden, leichtfüssigen Einträge sind je als Doppelseite angelegt. Name des Bösewichts/ Autor/ Titel/ Erstes Auftrittsjahr. Dann eine der kongenialen Illustrationen von Kristof Kepler und ein größeres Zitat, das den Bösewicht/ die Bösewichtin charakterisiert, danach die kenntnisreiche Vorstellung, die in Werk und Wirkung steigt. Sechs bis neun Kurzkategorien runden den jeweiligen Steckbrief ab. Bei Jorge von Burgos, dem Bösewicht aus Umberto Ecos „Der Name der Rose“, sind das u.a. „Funktion: Brandstifter, Hüter des Ernsts“, für Humorsagt das Rating: kein Stern. Bei Fantomas beschreibt Pesl auch die Produktionsgeschichte: Mit 32 jeweils etwa 400 Seiten dicken Romanen innerhalb von zwei Jahren, allesamt eifrigen Stenotypistinnen diktiert, begründeten Marcell Allain und Pierre Souvestre 1911 und 1912 den Ruf des genialen und grausamen Meisterverbrechers, dem Pesl den Weltherrschaftsfaktor 4 gibt. Kafkas Schloss – jawohl ebenfalls ein Bösewicht, und zwar im Kapitel „Die Ungreifbaren“ – hat als Waffe die Unnahbarkeit, die Haupteigenschaft „kafkaesk“, als Erzfeind den Landvermesser K. und als Output Beamte. Zu den Ungreifbaren zählt Pesl auch die Windmühlen in „Don Quijote“, den Raben von Edgar Allan Poe oder Sauron in J.R.R. Tolkiens „Herr der Ringe“.
Das Buch sei kein Lexikon, gibt der Autor im Vorwort Entwarnung. Stimmt. Man muss es nicht von vorne bis hinten lesen, man darf auch einfach blind Seiten aufschlagen, sich festlesen und auf amüsante Art hinzulernen. Oder es jemandem als Geschenk mitbringen. Das Böse hat seinen Reiz. Dieses Buch auch.
Martin Thomas Pesl: Das Buch der Schurken. Die 100 genialisten Bösewichte der Weltliteratur. Edition Atelier, Wien 2016. 244 Seiten, illustr., 19,50 Euro.
Schurken, richtig böse
(BH) Mit Schurken zu scherzen ist nicht jedermanns und jederfraus Ding, deshalb als andere Hälfte der Münze ein durch und durch ernsthaftes Buch. „Gesichter des Bösen“ heißt das Lexikon, das in 168 Porträts die üblen Taten von König Leopold II., Pinochet, Stalin, Hitler, Himmler, Hindenburg, Eichmann, Osama bin Laden, Slobodan Milosevic, Robert Mugabe, US-Präsident McKinley, Mohammed Atta und vielen anderen erfasst. Reale Könige, Präsidenten, Waffenschieber, Drogendealer, Terroristen, Soldaten, Kriegsverbrecher, Diktatoren und Politiker bevölkern dieses Kompendium. Und es ist gut, dass an solche Gestalten wie etwa den preußischen Infanteriegeneral Adrian Dietrich Lothar von Trotha (1848-1920), erinnert wird. Er war einer der schlimmsten Vor-Ort-Finger der deutschen Kolonialzeit. Als Kommandant der Kaiserlichen Schutztruppe und Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) ließ er den Herero-Aufstand besonders brutal und mit extremer Härte niederschlagen. Die Herero hatten die Frechheit, sich gegen die deutsche Kolonialherrschaft zu erheben, die ihnen Ressourcen, Würde, Kultur und Freiheit nahm. Nach der Niederlage in der Schlacht am Waterberg wurden die Herero von ihren Wasserstellen vertrieben und in Konzentrationslagern interniert. Nur jeder zweite Insasse überlebte, rund 50 000 Herero kamen ums Leben.
Bis heute – und erst recht unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan – ist der Völkermord an den Armeniern in der Türkei ein Tabu. Seine Erwähnung gilt als „Beleidigung des Türkentums“ und wird verfolgt. Das Lexikon benennt als das für den Genozid verantwortliche Triumvirat Mehmet Talat „Pascha“, Ismail Enver „Pascha“ und Ahmet Cemal. Sie waren im Osmanischen Reich für die systematische Ausrottung der armenischen Minderheit und für den Tod von bis zu 1,5 Millionen Menschen federführend verantwortlich.
Kant berühmtes Verdikt aus der Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793) – „Der Satz: Der Mensch ist böse, kann nichts anderes sagen wollen, als: er ist sich des moralischen Gesetzes bewusst und hat doch die (gelegenheitliche) Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen“ – bedeutet im Klartext: Die bewusste Entscheidung für moralisch verwerfliches Handeln kennzeichnet das Böse. (Siehe dazu auch das Ende der Besprechung von Urs Bitterli.)
Till Zimmermann, Nikolas Dörr: Gesichter des Bösen. Verbrechen und Verbrecher des 20. Jahrhunderts. Mit einem Geleitwort von Heribert Prantl. Donat Verlag, Bremen 2015. 288 S., illustr., 19,80 Euro.
Wenn die Theorie bunt sein will …
(AM) Sie haben es drauf, die französischen Soziologen und Philosophen, aus dem Kuddelmuddel der Zeit eine Kunst zu machen. Eine Theorie. Geoffroy de Lagasnerie bewundert Edward Snowden, Julian Assange und Chelsea Manning nicht nur, er sieht in ihnen das Auftauchen eines Neuen – des politischen Handelns und Denkens, der Vorstellungen, Formen und Praktiken des Widerstands. Er sieht sie als weit mehr als Whistleblower, sieht sie „als Aktivisten, als exemplarische Figuren, die einer neuen politischen Kunst zur Existenz verhelfen – einer anderen Weise zu verstehen, was es bedeutet, Widerstand zu leisten“. Die drei haben nicht nur das in Frage gestellt, was sich auf der politischen Bühne abspielt. „Sie stellten die politische Bühne selbst in Frage.“
Zornig ist de Lagasnerie über die Repression, die sie erfahren. Seine Fürsprache aber nimmt sie ausdrücklich als Personen aus, das wäre ihm zu subjektiv und zwänge ihn – schreibt er allen Ernstes – „mich ihren Denkweisen zu unterwerfen“.
Stattdessen lasse er sich lieber von ihrer Energie und Unnachgiebigkeit anregen, nehme sie als Vorbilder, um auf der theoretischen Ebene ebenso radikal zu sein wie sie es auf der politischen Ebene (tatsächlich) sind. Als Intellektueller den Dreien treu zu sein, verlange, „eine Theorie vorzuschlagen, die sich in intellektueller Hinsicht auf der Höhe ihres eigenen Einsatzes befindet“. Nun, fassen wir es kurz, mit Stand Redaktionsschluss sitzt Geoffroy de Lagasnerie für seine Theorie bisher weder im Gefängnis noch in einer Botschaft oder in Moskau, gibt es keine internationalen Haftbefehle und wüsten Stellungnahmen und Artikel gegen ihn, wurden keine Untersuchungsausschüsse eingerichtet, bei der seine Hinweise der Wahrheitsfindung dienten, noch wurden seinetwegen Rücktritte und/oder Amtsenthebungen gemeldet, Verschlüsselungs- und Überwachungsprozeduren geändert, Geheimdienst-, Big Business- oder Regierungspraktiken durchleuchtet und international diskutiert.
Die heiße Luft beiseite und die für einen Sozialrevolutionär bescheidene Empathie für andere Menschen („Revolutionäre an die Front, wir brauchen tote Helden für die Mobilisierung der Massen!“ oder: „Die Salons sind immer warm, schließlich sind es keine Schützengräben, was sollen wir Denker eh an der Front?“), bietet das Buch natürlich viele Anregungen. Die Welt aus den Angeln heben wird es nicht, oder Snowden, Assange oder Manning auch nur eine Stunde Situationserleichterung verschaffen. Foucault, Sartre, Pierre Bourdieu, Habermas, Giorgio Agamben („Ausnahmezustand“), Noam Chomsky, Jacques Derrida, Judith Butler. Eric Hobsbawm, John Rawls, Hannah Arendt, Georg Simmel, Axel Honneth, Glenn Greenwald, Henry David Thoreau und Max Weber, all die Kirchenväter kritischer Theorie stehen auf ihren Fußnotensockeln, wenn de Lagasnerie sich einen entnationalsierten „Weltbürger“ entwirft, der seine neuartige Freiheit in „neuen, heterogenen und flüchtigen Gemeinschaften“ oder gar „Kampfgemeinschaften“ verwirklicht. Nur schade, dass die dann nicht dabei sein können, die man verfolgt, erwischt und nationalstaatlich verurteilt und wegschließt. Die lesen dann Foucault in der Zelle? „Überwachen und Strafen“, von 1975?
Geoffroy de Lagasnerie: Die Kunst der Revolte. Snowden, Assange, Manning (L’art de la révolte. Snowden, Assange, Manning, 2015). Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 160 Seiten, 19,95 Euro. Verlagsinformationen.