Geschrieben am 5. September 2015 von für Bücher, Litmag

LitBits: Kurze Besprechungen neuer Bücher, September 2015

Kurzrezensionen – diesmal mit Haiku Rezension von Friederike Moldenhauer zu Scott Hutchins, Vickor Pelewin und Matthias Politycki und Besprechungen von Julia Wolf („Alles ist jetzt“), Brooke Davis („Noch so eine Tatsache über die Welt“), Èdouard Louis („Das Ende von Eddy“) , Joachim Lottmann („Happy End“), Clemens J. Setz („Glücklich wie Blei im Getreide“) und Haruki Murakami („Wenn der Wind singt“ / „Pinball 1973“) – geschrieben von Karsten Herrmann (KH), Frank Schorneck (FS) Bernd Jooß (BJ) und Ulrich Noller (UN).

Hutchins_theorie(FM) Haiku Rezension

Liebestheorie
künstliche Intelligenz
sehr schöner Roman

Scott Hutchins: Eine vorläufige Theorie der Liebe (A Working Theory of Love, 2014). Roman. Übersetzt von Eva Bonné. Piper 2014. 21,99 Euro.

Wolff_jetztSchonungslos

(KH) – Ein schonungsloses Stück Biographie liefert die 1980 in Gera geborene Julia Wolf in ihrem Romandebüt „Alles ist jetzt“ ab. Sie erzählt von einem Leben, aus dem jede Farbe gewichen und in dem ein Ende des düsteren Tunnels nicht absehbar ist.

Julia Wolfs junge Protagonistin Ingrid ist „eine Insel. Eine Insel mit Loch im Bauch“. Vor Jahren flüchtete sie aus der westdeutschen Provinz in die große Stadt. Hier arbeitet sie nun in einer Sexbar an der Theke, schleppt sich durch ihr Leben, ist unendlich müde und traurig. Es ist Weihachten und zusammen mit ihrem Bruder Gordon macht sie sich auf zum Besuch ihrer alkoholabhängigen Mutter, die seit der Scheidung vor vielen Jahren alleine in einem Haus von amerikanischer Anmutung in der Provinz lebt: „Kaum betritt Ingrid das Haus, setzt auch das Heulen ein. … Etwas in Ingrid wird klein, wie ein Kind, das auf seinem Bett sitzt und lauscht. Das nicht an Gespenster glaubt und sich trotzdem fürchtet.“

Ingrid erinnert sich an ihre Kindheit und Jugend in der Provinz, an ihre Entjungferung durch Moritz, den Freund ihres Bruders, als sie in den Sommerferien wochenlang alleine zu Hause waren. Zu ihm, der mittlerweile als Arzt in einem Universitätskrankenhaus arbeitet, bricht sie später in die große Stadt auf. Wochen wie im Rausch folgten, die Illusion von der großen Freiheit und der großen Liebe: „Nächtelang tanzt Ingrid inmitten von Körpern, tanzt sich lächelnd in ihren Kopf hinein, bis sie verschwunden ist.“ Doch das Glück bröckelt und endet mit einem Schwangerschaftsabbruch.

Mit einer knappen und gehetzten Prosa von großer Intensität zieht Julia Wolf den Leser von Anfang an in die Innenwelt ihrer Protagonistin, in ihre düster grundierten Wahrnehmungen und ungeschminkten Erinnerungen, ihre Verletzlichkeit und scheiternden Hoffnungen. Sie schafft eine beklemmende Atmosphäre, in der der Leser auf jeden Wohlfühlfaktor verzichten muss, aber gebannt weiter liest.

Julia Wolf: Alles ist jetzt. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt 2015. 154 Seiten. 19,90 Euro.

Davis_tatsacheNoch so eine Tatsache über die Welt

(UN) – Kann man übers Altern, über aussichtslose Einsamkeit, übers Verlassenwerden und über den Tod leicht und locker und witzig schreiben? Brooke Davis schafft genau das in ihrem Debütroman „Noch so eine Tatsache über die Welt“.

Millie Bird, sieben Jahre alt, ist die Heldin dieser Geschichte. Millie lebt in Australien, nicht allzu weit von Kalgoorlie entfernt, dem Goldgräberstädtchen im Westen. Die Kleine führt ein Buch der toten Dinge. Nachdem ihr Hund gestorben ist, kommt alles ins Buch, was mal lebendig war, dann aber eben zum „Ding“ wurde.

Was Millie anfangs nicht ahnen kann, aber bald als unabänderliche Gewissheit anerkennen muss: Nr. 28 wird ihr geliebter Vater sein. Mal abgesehen davon, was in Millie vorgeht und abgesehen davon, dass sie das alles sowieso nicht versteht ist das Problem: Millies Mutter wird immer seltsamer und verschwindet schließlich, lässt ihre Tochter ohne Abschied einfach in einem Kaufhaus zurück.

Millie wartet dort eine Zeit lang, dann macht sie sich auf den Weg, die Mutter suchen. Und zwar mit den anderen beiden nicht minder schrägen Helden dieser Geschichte, mit denen sie eher zufällig zusammen findet: Karl „Tasttipper“, ein Endachtziger, der seine verstorbene große Liebe vermisst, aus dem Altersheim abgehauen ist und ständig Worte auf imaginäre Tasten tippt. Und Agatha Pantha, 82, eine Legende im Ort, sie hat seit Jahren ihr Haus nicht mehr verlassen – eine überaus mürrische Alte, die sich vorwiegend mit den Schrecken des Älterwerdens beschäftigt und darüber seit Jahren das Leben (fast) vergessen hat.

Gemeinsam erleben die Drei Abenteuer und Reifungsprozesse, die es in sich haben – bis sie schließlich ein schönes Happy End erreichen. Sofern das in einer Geschichte, die sich mit dem Altern, der Einsamkeit, dem Verlassenwerden und dem Tod beschäftigt, überhaupt möglich ist.

Nein, dieser Roman ist kein Jugendbuch, ganz und gar nicht, obwohl „Noch so eine Tatsache über die Welt“ natürlich mit Elementen der Jugendliteratur arbeitet. Es ist vielleicht der Trend auf dem Buchmarkt schlechthin, und es ist ein Trend, der manchmal nervt – wenn Literatur, die spannend sein könnte, massenkompatibel simplifiziert wird.

Eine Gefahr, die bei Brooke Davis aber nicht besteht, weil sie die „Unschuld“ der kindlichen Heldin nutzt, um ihren Leser einiges an ungemütlichen Wahrheiten zuzumuten. Abgesehen davon, dass ihre Creative Writing Attitüde mit dem Höhepunkt einer viereinhalbseitigen Danksagung machmal nervt, ist diese Debütantin aus Australien eine Entdeckung: Dieser Roman ist klasse geplottet, mit messerscharfen Dialogen gewürzt, er glänzt vor perlendem Sprachwitz und beißender Situationskomik – und er rührt in seiner Herzenswärm

Brooke Davis: Noch so eine Tatsache über die Welt (Lost and Found, 2015). Roman. Gebunden. Übersetzt von Ulrike Becker. Kunstmann 2015. 280 Seiten. Euro 19,95.

Louis_ende von eddyEine Kindheit als Herz der Finsternis

(KH) – Mit autobiographischem Hintergrund erzählt der 22jährige Èdouard Louis in „Das Ende von Eddy“ die Geschichte einer tief unglücklichen Kindheit in einem nordfranzösischen Provinznest und von einem geglückten Aufbruch in eine neue Welt.

Eddy wächst mit seinen Geschwistern in ärmlichsten Verhältnissen und in einem Umfeld auf, dass von Alkohol, Gewalt, Homophobie und Machismo geprägt ist. Gleich zu Anfang stellt der Ich-Erzähler fest: „An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung. Das soll nicht heißen, ich hätte in all den Jahren niemals Glück oder Freude empfunden. Aber das Leiden ist totalitär: Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt.“

Und Eddy mit seinem schmalen Körper, seiner hohen Stimme und weiblichem Hüftschwung passt von vornherein nicht in das archaische System in seinem Dorf, das scheinbar unberührt vom 21. Jahrhundert seine brutalen und menschenverachtenden Wirkmechanismen entfaltet. Schon in der Grundschule wird Eddy so als „Schwuchtel, Schwuli, Schwuppe“ beschimpft und von zwei Jungs bis zum Unerträglichen tagtäglich gequält: Schläge, Tritte, Rotze ins Gesicht. Wo Eddy auch ist, ist er der Außenseiter und das Mobbingopfer, bis er schließlich beschließt „ein echter Kerl“ zu werden. Aber war er auch versucht: Er muss schließlich einsehen, dass seine Natur eine andere ist.

Neben der grausigen und schockierenden Leidensgeschichte von Eddy nimmt Èdouard Louis in seinem Roman auch die sozialen Verhältnisse ins Visier, die diese erst möglich machten. Ungeschminkt porträtiert er seine Eltern und die Dorfbewohner, die durch die unsäglich schlecht bezahlte Arbeit in Fabrik und Hilfsjobs kaputtgehen, die nur noch von Verzweiflung und Hass getrieben werden und eine Ausflucht nur noch im Saufen und Fernsehgucken finden – das Menschsein ist hier auf seiner tiefsten Stufe angelangt. Und so muss Eddy erkennen: „Unmöglich, in dieser Welt meiner Eltern und der Schule ein anderer zu werden.“ Über das Theaterspielen gelingt es Eddy schließlich auf eine weiterführende Schule in der Stadt zu kommen und sein Leben neu anzufangen.

„Das Ende von Eddy“ ist eine schockierend-berührende Kindheitsgeschichte und ein Blick in die dunklen Abgründe einer desozialisierten Dorfgesellschaft. Es ist aber auch eine Anklage gegen die tief verwurzelte Homophobie in weiten Gesellschaftsschichten, die Menschen nicht einfach so sein lassen kann, wie sie sind.

Èdouard Louis: Das Ende von Eddy (En finir avec Eddy Bellegueule, 2014). Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer 2015. 210 Seiten. 18,99 Euro.

Pelewin_Tolstois(FM) Haiku Rezension

„Ein Mensch ist ein Buch,
das Gott nur einmal durchliest.“
Der Autor ist Gott.

Viktor Pelewin: Tolstois Albtraum. Roman. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Luchterhand 2013. 448 Seiten. 21,99 Euro.

Lottmann_happyZeitgeistiger Schlüsselroman

(KH) – Der Pop- und „Zeitgeist“-Literat Joachim Lottmann gilt als enfant terrible des deutschen Literaturbetriebes und der frisch gekürte Büchner-Preisträger Rainald Goetz schrieb über ihn einst: „Joachim ist wirklich böse, finster, zuinnerst, zutiefst und ohne Grund einfach böse.“ In seinem neuen (Schlüssel-) Roman „Happy End“ wird Lottmann seinem Ruf mehr als gerecht und zieht schonungslos einen Literaturbetrieb durch den Kakao, den er gerne auch mit Sepp Blatters FIFA vergleicht.

Lottmanns Alter ego Johannes Lohmer hat es in „Happy End“ geschafft: Er hat endlich seine große Liebe gefunden und mit der Verleihung des Wolfgang.Koeppen-Preises auch literarischen Erfolg erlangt. Weil er glücklich ist, kann er aber nicht mehr schreiben und übt sich jetzt „in der biederen Kunst des Scheinschreibens, um fette Vorschüsse zu kassieren.“

Und wie er da er verspielt und sinnfrei auf der Tastatur klimpert, erzählt er im Dialog mit dem Leser von seinem dahin plätschernden Alltag und seinen Überlegungen, an wen er den Koeppen-Preis denn jetzt weiter reichen soll. Das führt neben einer lustigen Dauerbeschäftigung mit seiner eigenen Schreibkrise zu einer ätzenden Kritik der hochsubventionierten deutschen Gegenwartsliteratur. Eines steht für Lohmer auf jeden Fall fest: Gute Literatur ist auf dem Markt niemals erfolgreich und „Preise bekommen doch nur Heuchler sowie Leute, die Krebs haben oder bald sterben.“

Gerne schlägt Lohmer alias Lottmann in dieser Weise unter die Gürtellinie und nutzt dazu auch sehr persönliche Gespräche und Erlebnisse mit vielen Autoren wie etwa Sybille Berg, Marlene Streeruwitz, Tilmann Ramstedt, Matthias Matussek, Tex Rubinowitz oder der „Kölner Superfee Alina Bronsky“.. Aber Vorsicht: Wahrheit und Dichtung gehen bei diesem schelmisch-schamlosen Autor, der auch immer wieder sein eigenes Privatestes bloßlegt und sich voller Selbst-Ironie betrachtet, eine untrennbare Liaison ein.

Aber nicht nur im Hinblick auf den Literaturbetrieb pfeift Lohmer auf Diskretion und Political Correctness: Auch die erfolgreichen Alt-68er aus dem Umfeld seiner „lieben Frau“, die Feministinnen und “weiblichen Wutbürger“ oder die „gehirnentkernten Jugendkultur-Wracks“ in Berlin kriegen reichlich ihr Fett ab. Kurzum: Lohmer fordert „das Recht auf Diskriminierung aller“.

„Happy End“ ist eine locker dahin geschriebene und über weite Strecken höchst amüsante und kurzweilige Suada über den Literaturbetrieb und seine Autoren sowie aktuelle gesellschaftliche Strömungen. Als „Zeitgeist“-Autor geht es Lottman nämlich ebenso wie seinem alter ego Lohmer darum, „daß ich dem jeweils herrschenden allgemeinen Bewusstsein hinterher schnüffele“ – um es dann provokant auf den Schmerz-Punkt zu bringen.

Joachim Lottmann: Happy End. Haffmanns / Tolkemitt 2015. 352 Seiten. 19,95 Euro

Setz_bleiZwischen Komik, Grauen und Brillanz

(BJ) – Obacht heißt es, wenn es sich um Literatur von Clemens J. Setz handelt. Nicht, weil sie gemeingefährlich, prätentiös oder gar anrüchig wäre. Nein, Clemens J. Setz arbeitet nur gern mit doppelten Böden, mit dem Spiel von Schein und Wirklichkeit, mit der Frage der Identität, mit Absurditäten, die beinahe an Sinnlosigkeit grenzen, mit Anspielungen auf Popkultur und der Verfremdung und Demontage seiner eigenen (literarischen) Person. In anderen Worten: er changiert irgendwo zwischen Daniel Kehlmann, Thomas Glavinic, Kafka und Monty Python und ist dabei doch ganz er selbst. Ein Konglomerat, das sicher nicht jedem schmeckt und dennoch höchste Freude bereit, wenn man sich auf diese Erzählwelten einlässt … und der darüber hinaus der deutschsprachigen Literatur einer seiner aufregendsten Stimmen verleiht. Im April sind seine Nacherzählungen „Glücklich wie Blei im Getreide“ im Suhrkamp Verlag erschienen. Lohnt sich dieser quasi Erzählband? Auf jeden Fall! Ist er für jeden Leser geeignet? Auf keinen Fall!

„Nacherzählungen“ heißen die Geschichten deshalb, weil der Band nicht seine frühen Geschichten, die er zwischen den Jahren 2001 und 2003 geschrieben hat, im ganzen enthält, sondern Setz sie lediglich in ein paar kurzen Sätzen zusammenfasst – und das ist auch gut so. Denn herausgekommen ist nicht nur ein amüsant-heiterer Band mit passenden Zeichnungen von Kai Pfeiffer (ein freischaffender und in Berlin lebender Künstler), sondern zugleich eine Hommage, Dekonstruktion und literarische Werdegang des jungen Clemens J. Setz.

In erster Linie macht es jedoch einfach Spaß, die kurzen Zusammenfassungen zu lesen, die Überschriften tragen wie zum Beispiel „Fleischmanns Trauer um einen verrückt gewordenen Kirschbaum“, „Der rote Raum und die roten Menschen darin“, „Verliebt wie ein brennender Stuntman“, „Erlebnisaufsatz: Wie ich meinen ersten Sklaven bekam“, „Stell mir einen Kran aufs Grab“ und „Das Licht am Ende des Loopings.“

Viele dieser Nacherzählungen muten wie eigene kleine Geschichten an, die einen völlig satt machen und bei denen nur in den seltensten Fällen der Wunsch aufkommt, die eigentliche Erzählung lesen zu wollen. Die meisten dieser Miniaturen sind derart absurd, überzogen, dadurch komisch – und manchmal grausam. Außerdem schien der junge Setz eine starke Affinität zu einem Mädchen namens Klara gehabt zu haben, zumindest taucht selbige gleich in drei verschiedene Nacherzählungen auf. Davon abgesehen werden auffällig oft Jugendliche gequält oder sie hegen Selbstmordgedanken und natürlich spielt auch Sex eine nicht ganz unwichtige Rolle. Bei manchen Geschichten hingegen ist keinerlei Handlung zu erkennen und sie brechen mitten im Satz ab. Darin steckt sicher eine Menge Potential zum Interpretieren, doch wie Setz ebenfalls in seinem Vorwort erklärt, war das Königreich des damals gerade einmal 18-, 19jährigen Autors das Vage, der poetische Nebel, die aneinandergereihten Einfälle.

Und als wäre das noch nicht genug, bekommt der Leser auch einen kleinen Einblick in die Schreibwerkstatt des Autors. So erfahren wir nicht nur, dass er die Geschichten mit den drei identischen Tauben in verschiedenen Varianten versuch hat zu schreiben, sondern auch, wie ihn sein Mathematikstudium zu der Erzählung »Das große Gefangenendilemma von Alrau« inspirierte.

Setz beschreibt das Gefühl, welches er beim Wiederlesen dieser Geschichten empfand als „douche chills“, das er mit „Fremdschämgänsehaut“ übersetzt. Nun, vielleicht fremdschämt sich der Autor für seine ersten literarischen Versuche, für seine Nacherzählungen muss er das bestimmt nicht. Und wenn Sie den Band beendet haben, greifen Sie unbedingt zu Setz‘ Kurzgeschichtensammlung „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“, die beweist, wie meisterlich der Autor inzwischen das Metier der Erzählung beherrscht. Und in diesen Tagen September erscheint dann sein neuestes Werk, der 1000seitige Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre« – auch dieser ist sicher reichlich gespickt mit absurden Einfällen, die in kein Genre pressen lassen.

Clemens J. Setz: Glücklich wie Blei im Getreide. Nacherzählungen. Zeichnungen von Kai Pfeiffer. Suhrkamp 2015. 114 Seiten. 12,00 Euro.

Politycki_samarkand(FM) Haiku Rezension

Wanderers Reise
im Krieg zum mystischen Grab
die Berge atmen.

Matthias Politycki: Samarkand. Roman. Hoffmann & Campe 2013. 400 Seiten. 22,99 Euro.

Murakami_Wind_PinballFrühe Fingerübungen eines Meisters

(KH) – Es war einmal ein junger Mann, der zusammen mit seiner Frau ein Jazzlokal in Tokio eröffnet und sich mit viel Arbeit und wenig Geld durch das Leben schlug. Bei einem Baseballspiel überkommt ihm plötzlich die Eingebung, ein Roman schreiben zu wollen. Es ist eine wahre Epiphanie: „Ich hatte das Gefühl, etwas sei langsam vom Himmel geflattert und ich hätte es mit meinen Händen aufgefangen.“ Dieser junge Mann hieß Haruki Murakami, der heute mit seinen Romanen auf der ganzen Welt ein Millionenpublikum erreicht.

Murakami erzählt diese Episode als Vorspann zu seinen jetzt erstmals auf Deutsch vorliegenden Debut-Romanen „Wenn der Wind singt“ und „Pinball 1973“. Lange Zeit hatte sich Murakami von diesen beiden Romanen, die zusammen mit „Wilde Schafsjagd“ die „Trilogie der Ratte“ bilden, distanziert und eine Übersetzung verhindert.

Und eines kann man an dieser Stelle schon vorwegnehmen: Die beiden in der aufkommenden japanischen Popkultur entstandenen Erstlinge sind noch wahrlich keine Meisterwerke. Aber sie lassen schon einiges von dem unvergleichlichen Murakami-Stil erkennen, der sich auf kurze Sätze konzentriert und auf Ausschmückungen und Erklärungen verzichtet. Dieser Stil, so erläutert Murakami selber, entstand, indem er als junger Autor auf Japanisch nicht weiter kam und stattdessen auf der Grundlage eines eher beschränkten Wortschatzes anfing seine Romane auf Englisch zu schreiben und dann wieder zurück zu übersetzen. So entstanden seine ersten „Küchentisch-Romane“.

„Wenn der Wind singt“ und „Pinball 1973“ haben so in der Tat auch einen eher fragmentarischen und beiläufigen Charakter. Der Ich-Erzähler und sein Freund Ratte treiben durch das Leben, trinken in ihrem Stammlokal bei Jay viel Bier und Whiskey, hören Jazz, Klassik und Rock, machen Frauen-Bekanntschaften und bleiben irgendwie doch immer alleine, verloren und sich selbst entfremdet: „Mitunter komme ich mir vor wie aus den Teilen zweier unterschiedlicher Puzzle zusammen gesetzt.“

Die beiden Romane sind stark von der amerikanischen Popliteratur beeinflusst, die Murakami als exzellenter Kenner und auch Übersetzer amerikanischer Literaturgrößen zeitnah rezipiert haben dürfte. Hinzu kommen hier aber auch schon die den späteren Murakami so auszeichnenden magisch-fantastischen Elemente. So tauchen beispielsweise in der Wohnung des Erzählers ganz unvermittelt zwei feenhafte Zwillingsmädchen auf und bleiben fortan.

„Wenn der Wind singt“ und „Pinball 1973“ sind kurzweilig zu lesende Fingerübungen des späteren Meisters, in dem sich schon viele seiner prägenden Motive versammeln und sein Stil anfängt in die Form zu finden. Ein Coming Out der besonderen Art!

Haruki Murakami: Wenn der Wind singt / Pinball 1973 (Kaze no uta o kike/1973-nen o pinboru). Zwei Romane. Aus dem Japanischen von Urslua Gräfe. Dumont 2015. 268 Seiten. 19,99 Euro.

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