Geschrieben am 3. Oktober 2015 von für Bücher, Litmag, News

LitBits: Kurze Besprechungen neuer Bücher, Oktober 2015

Kurzrezensionen – diesmal mit Besprechungen von Adelle Waldman („Das Liebesleben des Nathaniel P.“), Daniel Schreiber („Nüchtern. Über das Trinken und das Glück“), James Tiptree Jr. („Sämtliche Erzählungen in 7 Bänden“), Helga Maria Wolf („Verschwundene Bräuche“), Adam Thirlwell („Grell & süß“), P H Gruner („Zikaden mit Zahnrad. Glossen“), Dave Eggers („Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?“), Fulvio Pelli, Béatrice Acklin, Yann Grandjean (Hg.) („Was heisst denn heute liberal? Liberale Antworten auf Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“) und Ianina Ilitcheva („183 Tage“) – geschrieben von Karsten Herrmann (KH), Zoë Beck (ZB), Tina Manske (TM), Alf Mayer (AM), Bruno Arich-Gerz (BAG) und Senta Wagner (SW).

Waldman_LiebeslebenPsychogramm der Liebe im 21. Jahrhundert

(KH) Warum ist es mit der Liebe zwischen Mann und Frau im 21. Jahrhundert, im Zeitalter von Internet, Cyber-Porno, Speed-Dating, Facebook und anscheinend allgegenwärtiger Verfügbarkeit nur so schwierig? In ihrem brillanten Debüt „Das Liebesleben des Nathaniel P.“ seziert Adelle Waldmann diese Frage auf ebenso komische wie tiefgründige Weise aus der Perspektive eines Mannes.

Der titelgebende Nathaniel P. ist ein postmoderner Stadtneurotiker par excellence. Er ist ein politisch korrekt erzogenes „Produkt des Postfeminismus“, der dabei im ständigen, schuldbehafteten Zwiespalt zwischen seinem feinfühligen Geist und seinem grobschlächtigen Unterleib steht. Nach einem Studium in Harvard schlägt sich der Sohn rumänischer Einwanderer als Schriftsteller und Literaturkritiker in New York durch. Nach prekären Jahren bekommt er mit 30 einen Buchvertrag mit einem großen Verlag und gilt in der Brooklyner Künstler- und Journalistenszene als aufstrebender Intellektueller, der ganz nebenbei glänzende Essays über die „Kommerzialisierung des Gewissens“ schreibt.

Während es literarisch also gut läuft, fehlt Nathaniel im Beziehungsleben allerdings der Kompass. Wild pendelt seine Nadel hin und her: Immer steht er zwischen mehreren Frauen, fühlt sich schnell unaufhaltsam angezogen und dann aber auch schnell wieder abgestoßen, was mit einer schonungslosen Kritik der kleinen körperlichen und geistigen Schwächen seiner gerade aktuellen Partnerinnen einhergeht. Er schwankt und hadert und fragt sich, ob seine Bindungs- und Beziehungsunfähigkeit vielleicht sogar pathologisch ist. Und er beteuert: „Im Gegensatz zu dem, was die Frauen offenbar dachten, war ihm ihr Unglücklichsein nicht gleichgültig. Und doch schien er es unabsichtlich bei ihnen auszulösen.“

Mit einer traumhaft sicheren Prosa zeichnet Adelle Waldmann in ihrem Debütroman ein feinfühliges Psychogramm der Liebe im 21. Jahrhundert. Überzeugend schreibt sie dabei als Frau aus der Perspektive eines Mannes, spürt seinen oszillierenden Gefühlswelten und den ewigen Wellenbewegungen der Liebe nach: Ihrem Anbranden, Überschäumen und ihrem sich fast erschrocken wieder Zurückziehen. Ewigkeiten scheinen nicht mehr zeitgemäß.

Adelle Waldman: Das Liebesleben des Nathaniel P. (The Love Affairs of Nathaniel P, 2014). Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Liebeskind 2015. 302 Seiten. 19,90 Euro.

Schreiber_NüchternElegant, persönlich, informativ

(ZB) Vermutlich genau die richtige Lektüre für die Wiesnüberlebenden, aber nicht nur: Daniel Schreiber erzählt in “Nüchtern” von seiner Alkoholabhängigkeit, von der er lange nicht wusste, dass es eine war. Er beschreibt, wie er damit lebte, wie er damit nicht mehr leben wollte, und warum es einfacher ist, mit dem Trinken aufzuhören, als nicht wieder anzufangen. Die Allgegenwart des Alkohols, die Toleranz auch des Vieltrinkens und Betrunkenseins, das Selbstverständnis alkoholischer Getränke in unser aller Leben, das Unverständnis dem Nichttrinker gegenüber, all das thematisiert er offen und klar, und nicht nur anhand eigener Erfahrungen.

Fast alle trinken, sagt er, der Nichttrinker unter den Trinkenden, den der Rechtfertigungszwang quält. Schreiber geht auf die neurologischen Veränderungen ein, die durch regelmäßigen, selbst geringen Alkoholkonsum entstehen, er berichtet von großen Peinlichkeiten im Suff, die weniger schlimm schienen als der Makel des Trockenseins. Von der Suche nach dem Glück und dem Wunsch nach Vergessen spricht er und vermeidet es, den Zeigefinger zu heben oder sich moralisch über all jene zu stellen, die noch nicht aufgehört haben oder nie aufhören werden. Er beendet sein Buch mit dem Moment, in dem er seinen Entschluss fasste aufzuhören, und beschreibt ihn als seltenen Moment der Klarheit, für den er heute immer noch jeden Tag dankbar ist.

Tatsächlich ein in seiner Offenheit berührendes, weil gar nicht wehleidiges Buch. Kein “So schaffst du es wirklich”-Ratgeber, kein mahnender Angstmacher, sondern ein mutiger Bericht. Elegant geschrieben, sehr persönlich und zugleich informativ, mit vielen Verweisen auf Studien und Sekundärliteratur. Ein Buch, das den Blick öffnet und angesichts 9,5 Millionen Menschen allein in Deutschland, die “Alkohol in gesundheitlich riskanter Form” konsumieren, ein wichtiger gesellschaftlicher Beitrag, der sich damit auseinandersetzt, wie es sein kann, dass Alkoholsucht in unserer Gesellschaft nicht nur akzeptiert, sondern gleichwohl gefördert wird.

Daniel Schreiber: Nüchtern. Über das Trinken und das Glück. Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2014. 160 Seiten. Gebundene Ausgabe. 16,90 Euro. eBook 12,99 Euro.

Teptree_doodleTolle Wiederentdeckung einer Phantastin

(TM) „Ich bin mir ziemlich sicher, dass man im 22. Jahrhundert Tiptree lesen wird wie wir heute Kafka“ – dieses Diktum von Denis Scheck sitzt, wackelt und hat Luft. Wer sich mit einer der rätselhaftesten Autorenfiguren des vergangenen Jahrhunderts auseinandersetzen will, der hat jetzt dank des Wiener Septime Verlags leicht Gelegenheit dazu. James Tiptree Jr.s Identität lud schon zu Lebzeiten zu Spekulationen ein, doch selbst die glühendsten Verehrer des SciFi-Autors gingen natürlich davon aus, dass hinter dem Pseudonym ein Mann steckte. Welche Überraschung, als sich herausstellte, dass diese schnellen, harten Geschichten von einer distinguierten Frau mit Locken geschrieben wurden.

Vielleicht sollte man, statt immer nur Carver zu bemühen, wenn es um perfekt arrangierte Short Stories geht, auch Sheldon in die Ahnenreihe aufnehmen. Es gibt im Band „Liebe ist der Plan“ und dort in der Geschichte „Der Mann, zu dem die Türen Hallo sagten“ den Satz: „Ich versuchte weiter, mich zu entscheiden, ob ich hier mehr litt als anderswo“. Ein großartiger Satz. Nicht nur das Nachdenken über das Weggehen ist darin, sondern auch das Warum. Weniger gute Schriftsteller hätten mindestens drei Sätze gebraucht, um so viel unterzubringen, und hätten sich dann in Belanglosigkeiten verloren. In Sheldons Geschichten gibt es keine Belanglosigkeiten. Dystopien ja, Gewalt und Sex ja, aber keine Belanglosigkeiten.

Diese Texte sind nie um eine Überraschung verlegen. Manchmal findet man sich unversehens in einer pornografischen Erzählung wieder, so bei „Herz Drei“ aus dem Band „Yanqui Doodle“. Eine irdische Frau erinnert sich da an die intergalaktische Begegnung mit zwei männlichen außerirdischen Geschöpfen, denen sie die menschliche Sexualität sehr anschaulich erklärt, was in einem Sex-Gelage endet, das an Explizität seinesgleichen sucht. Doch trotz aller Gewalt und sexueller und sonstiger Abgründe – und das erklärt einen kleinen Teil der Faszination ihrer Texte –, trotz all dieser Dystopien scheint Sheldon aka Tiptree überzeugt von der Liebe und dem Guten, das diese ausrichten kann. Die tolle Wiederentdeckung einer Phantastin, für die man dem Septime Verlag dankbar sein muss. (Ein CM-Verlagsporträt finden Sie hier.)

James Tiptree Jr.: Sämtliche Erzählungen in 7 Bänden. Septime Verlag. Mehr Informationen hier.

Wolf_verschwunde bräucheFür dieses Buch wurde gegautscht

(AM) Mathias Claudius (1740 – 1815) führte für seine Familie eigene Feiertage ein. Bräuche fallen nicht vom Himmel, sie werden erfunden, wenn man sie braucht. Kaum einer hat sich aus der Vorzeit bis heute erhalten, machen kann man beim Verschwinden zusehen – wie etwa dem Grüßen. Respekt und Nähe, Vertrautheit oder Distanz drückten sich darin variantenreich aus, erst recht im Dialekt, wo es auf jede Sprachnuance ankommt und Pauschallösungen wie ein „Hallo“ oder „Tschüss“ nicht vorgesehen sind. Aber wo grüßt man sich noch auf der Straße oder im Wald? Sogar am Berg immer weniger. „Welche Macht muss es gewesen sein, einem so großen Volk wie dem Deutschen diesen Einheitsgruß „Heil Hitler“ zu verordnen, dass er fast widerspruchslos angewendet wurde“, wundert sich Sepp Forcher in „Verschwundene Bräuche. Das Buch der untergangenen Rituale“.

Altbacken? Von wegen: Vom Adam-und-Eva-Spiel und dem Advent bis zum Zylinderhut reichen die rund 300 verschwunden Bräuche, die von der österreichischen Kulturwissenschaftlerin Helga Maria Wolf vorgestellt, erläutert und kommentiert werden. Wie vor einigen Jahren mit dem wundersamen Kompendium „Verschwundene Arbeit“ von Rudi Palla (LitMag-Besprechung hier) glänzt der Wiener Verlag Brandstätter erneut mit einem Buch, das sich zwar mit möglicherweise Altbackenem oder Überkommenem beschäftigt, das aber haptisch, gestalterisch und inhaltlich auf avanciert modernem Niveau präsentiert. Ein Buch also, das man den Großeltern oder Tanten schenken, mit dem man selbst aber jede Menge eigenen Spaß haben kann. Erkenntnisse zuhauf sowieso. Das Kuriose und das Kirchliche sind darin im Zaum gehalten, das Städtische und Ländliche ausgewogen, der Gegenwartsbezug nicht hintan gestellt. Eingedampft hat Helga Maria Wolf, evident etwa gegenüber dem 1927 bis 1942 erschienenen zehnbändigen „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“, die Superstition als Brauchtums-Stifter. Die Behandlung von Wetterläuten oder Feldsegen versteht sie als ein Fenster in die Vergangenheit.

Brauch-Erfinder, betont sie in ihrer Einleitung, kamen aus allen sozialen Schichten. Brauchtumsgründe konnten religiöse Gebote, wirtschaftliche Notwendigkeiten, ungeschriebene Gesetze oder psychologische Gegebenheiten zur Ursache haben.

Bräuche, dies kann als ein gemeinsamer Nenner gelten, machen Werte sichtbar und geben Hinweise auf das Ausbalancieren der Verhältnisse. Die Heischebräuche etwa , das überlieferte Brauchrecht von meist Kindern und Jugendlichen, für bestimmte Leistungen Geld oder Lebensmittel zu sammeln („einzuheischen“), ist für Helga Maria Wolf ein Anlass, höchst sachkundig über das Kaschieren sozialer Unterschiede vom alten Germanien bis zu Johann Wolfgang von Goethe zu informieren. Immer angenehm im Ton, gelingt ihr die Darstellung vieler soziokultureller Zusammenhänge abwechslungs- und variantenreich – vom Angelusläuten und Aufräummontag, Berufsbräuchen oder Blauem Montag, von Pflanzen und deren Gebrauch in Bräuchen über die Eisheiligen und Erntedank, von Fasching oder Fasnacht zu Fastenzeit und Fensterln, vom Gautschen und dem Haussegen, dem Heringsschnappen oder Hochzeiten, von Kerbholz und Kreuzweg, Maibaum und Mühlen, von Neujahr, Öfen, Pranger und Prozessionen, Rügebräuchen und Schwerttänzen, Stammbuch, Tracht und Weiberfastnacht, Wein und Wetter bis hin zu Zahlen, das ganze menschliche Leben lang von Geburt bis Tod.

Hergestellt und gestaltet wurde dieses schön illustrierte Buch klar von erfahrenen Jüngern der Schwarzen Kunst. Muss man Gautschen heutzutage außerhalb von Mainz erklären? Helga Maria Wolf tut es auf Seite 71. Es ist die Initiationszeremonie der Buchdrucker und Schriftsetzer:
„Packt an, Gesellen, lasst seynen Corpus Posterium fallen/
auf diesen nassen Schwamm, bis treeifen beyde Ballen/
der durst’gen Seele gebt ein Sturtzbad obendrauff/
das ist dem Jünger Gutenbergs seyn’n beste Tauff.“

Helga Maria Wolf: Verschwundene Bräuche. Das Buch der untergegangenen Rituale. Sachbuch., Hardcover. Mit Beiträgen von Sepp Forcher und ca. 150 Abbildungen. Brandstätter, Wien 2015. 232 Seiten. 34,90 Euro.

Thirlwell_GrellDie Wirklichkeit als Brausepulver

(KH) Der 1978 geborene Adam Thirlwell ist so etwas wie ein Wunderkind der britischen Literatur: Seine beiden bisherigen Romane „Strategie“ und „Flüchtig“ wurden international hochgelobt und mit Preisen ausgezeichnet sowie in 30 Sprachen übersetzt. Mit „Der multiple Roman“ bewies sich Thirlwell darüber hinaus auch als unglaublicher belesener Literaturtheoretiker mit Witz und Esprit. Und doch: Der Brite bleibt ein schwer zu fassendes Vexierbild, dass zwischen plattem Pop, Geschwätzigkeit, philosophischer Reflexion, Genie und Wahnsinn hin und her pendelt.

Genau dies bestätigt auch Thirlwells neuer Roman „Grell & Süß“, der den Pop und die Postmoderne schon im Titel und auf dem in klebrigen Bonbonfarben gestalteten Coverbild trägt. Thirlwells Held ist ein gut erzogener, begabter und ziemlich neurotischer junger Mann aus begütertem Hause und von „Beruf Sohn“. Er lebt so mit seiner schönen Frau Candy noch zu Hause bei seinen Eltern, cruist sich lässig durch die Tage und verfolgt das „Ideal einer umfassenden Daseinsform“ – bis zu dem „Punkt, von dem sich meine gewohnten Kategorien in Luft auflösten“ und er neben seiner so gut wie toten besten Freundin Romy in einem Hotel erwacht.

Im Rückblick erzählt er uns, wie es dazu kommen konnte und lotet in ausdifferenzierten (Selbst-) Dialogen und -Reflexionen die Grenzen zwischen Liebe und Untreue, Sex und Moral aus in einer „Zeit, in der wirklich alles obszön war“. Unterstützt durch diverse Narkotika und hierdurch ausgelöste „Orgien“ erweitert der Ich-Erzähler seine Lebens-Optionen und löst sich aus seiner eindimensionalen Daseinsform: „Nur ein einziger Mensch zu sein, Was für ein Unglück!“. Das Wirkliche wird ihm immer mehr zu einem „Brausepulver“, dass knistert, blubbert und überschäumt.

„Grell & Süß“ ist ein klassischer und fast schon retrohafter Roman der Postmoderne mit einem quecksilbrigen Helden und prall gefüllt mit Pop- und Trashbezügen. Thirlwell erweist sich einmal mehr als ein Meister der überraschenden und tiefgründigen Metaphern, er ist witzig, philosophisch, provokant und genialisch. Er ist aber auch ein ungeheuerlich geschwätziger Autor, der sich scheinbar selber an seinen fein gedrechselten Sätzen und Sentenzen berauscht, bis diese in einer Endlosschleife sinnentleert um sich selbst zu kreiseln beginnen.

Adam Thirlwell: Grell & süß (Lurid & Cute, 2015). Aus dem Englischen von Tobias Schnettler. S.Fischer 2015. 448 Seiten. 19,99 Euro.

Gruner_ZikadenMitZahnrad-309x500PH Gruners gesammelte Streiflichter und Querschüsse

(BAG) Traurig, aber wahr: Glossen fristen im Zeitalter von Zeitungssterben und Comediantentum, ein prekäres Dasein. Da ist es begrüßenswert, dass sich jetzt der Publizist, Künstler und Romancier PH Gruner mit seinen im Darmstädter Echo erschienenen Glossen auf die Ladentheken und in die Regale der Buchhandlungen wagt. Seine Einwürfe im Zeichen des nicht unbedingt ernst Gemeinten, aber doch tiefernste Wahrheiten Verkündenden sind lesens- und im wahrsten Sinn des Wortes nach-denkenswert.

In diesem Sinn anregend sind, erstens, Gruners semantische Akrobatik und die netten Assoziationsketten: etwa wenn die südhessische Spitzfeder die Vorzüge des E-Books in Sachen Speicherkapazität und Handlichkeit gekonnt durch den Dada-Sprachkakao zieht: „Alles drin im E-Büchlein, von Mitscherlich bis Dostojewski“. Der E-Reader ist also das gefundene Medium für Bibliophile, schließlich ist man damit im wahrsten Sinn des Wortes biblioviel. „Nur wenn der Akku alle ist, die Steckdose fehlt oder das Kabel vom Töchterchen mit der Nagelschere sauber abgeschnitten wird, dann ist dauerhaft Nacht. Dann bist du biblionix“.

Zweitens ist Gruner nicht nur hochgradig sprachsensibel, sondern zugleich – das gehört wohl zusammen – bis in die letzte Faser sprachkritisch. Das Maß, in dem „wir dem Götzen der Leitkultur des Englischen und Denglischen willig opfern“ ist ihm dabei ein besonderer Dorn im Auge: vor allem, wenn die Anglizismen gut durchgebraten und bis zur Unkenntlichkeit sinnentstellend sind wie bei der guten alten Eintrittskartenhinterlegungsstelle, neunamentlich „Ticketing-Abhol-Counter“.

Im weltbetrachtenden Koordinatensystem Gruners gibt es zwei fixe Achsen, die einem als Leser/in und Nach-Denker/in Orientierung geben. Da ist zum einen die Kritik an überbordender political correctness, wenn es um den Klassiker von Männlein und Weiblein und die Sprachverschlimmbesserungen im öffentlichen Diskurs-Raum geht. Beispiel „Frauenparkplätze“, und wieder wird’s sprachsensibel: ist das jetzt genitivus obiectivus oder genitivus subiectivus? Zum anderen sind seine Beiträge spürbar sozialliberal grundiert. Mit der großen Koalition und der F.D.P. von heute kann Gruner nicht viel anfangen, mit der LINKEN auch nicht. Etwas überraschend schlägt er außerdem mehr als nur eine Bresche für Peer Steinbrück: Das kann man mögen, muss es aber nicht bei einem höchstens noch in Spurenelementen sozialdemokratisch veranlagten Zeit-Genossen wie dem Kanzlerkandidaten von 2013.

Trotzdem, unterm Strich bleibt vor allem Lob. Zikaden mit Zahnrad zeigt, dass hier einer satirische Einwürfe und Querschüsse kann. Entsprechend bedauerlich wäre es, wenn Gruner Ernst machen würde mit der flotten Idee, aus dem Streiflichterschreiben ein Geschäftsmodell zu machen, komplett mit Copyright und Schutz des Markennamens: „Wer dann immer noch meine Worte benutzt, wird verklagt und muss blechen. Dann muss ich auch keine Glosse mehr schreiben. Ich verdiene dann anders“.

Wirklich, es wäre schade.

P H Gruner: Zikaden mit Zahnrad. Querschüsse, Glossen, Satiren. Justus von Liebig Verlag 2015. 176 Seiten . 16,00 Euro.

Eggers_ProphetenRoman in Dialogform

(ZB) Die Väter, sie hörten nicht auf die Propheten, und der zornige Gott fand das Exil als Strafe nur folgerichtig. Selbst Schuld. Die neue Generation aber hat einen Neuanfang verdient, da ist Gott gnädig, dazu müssen sie sich ihm nur zuwenden und Buße tun. So steht es in Sacharja Kapitel 1, und der Vers 5 gibt dem neuen Roman von Eggers den Titel.

Der Protagonist Thomas (vom Alten ins Neue Testament, möglicherweise, zum zweifelnden, zum ungläubigen Thomas) sucht nach Antworten in seinem Leben. Er weiß nicht mehr, woran er glauben und wofür er leben soll.

Deshalb entführt er sein einstiges Idol, einen Astronauten, der jahrelang ausgebildet wurde und dann doch nie ins All fliegen durfte, weil das Programm gestrichen wurde, und verschleppt ihn in eine verlassene Militärbasis, die den pazifischen Ozean überblickt. Thomas scheint damit weniger umgehen zu können als der Astronaut selbst, eine Welt ist für ihn zusammengebrochen. Wo sind die großen Projekte, wo die großen Aufgaben? Er stellt Fragen, und die Antworten führen zu weiteren Fragen und weiteren Entführungen. Seinen chloroformgetränkten und angeketteten Opfern versichert er, nicht gewalttätig zu sein. Ein Kongressabgeordneter, der in Vietnam war, soll ihm erklären, wofür Thomas‘ Generation denn heute noch kämpfen soll, gibt es denn noch einen klaren Feind?

Wie im Leerlauf scheint sich der junge Mann zu fühlen, verzweifelt und hilflos und auf der Suche nach Halt, emotional und geistig längst nicht mehr gesund, aber funktionsfähig genug, um seine Pläne durchzuziehen. Dass er nie Halt im Leben hatte, zeigt sich, als er einen ehemaligen Mathelehrer und schließlich sogar seine eigene Mutter auf die Militärbasis holt, ebenfalls mit Chloroform und Ketten, und langsam zeichnen sich die persönlichen Katastrophen in Thomas‘ Leben ab, zu denen Vernachlässigung, Missbrauch und auch der Tod seines halbvietnamesischen besten Freundes aus Schulzeiten zählt – er wurde sinnlos von Polizisten erschossen. Immer mehr Antworten bekommt Thomas auf seine drängenden Fragen, und fast scheint sich alles aufzuklären, bei aller Absurdität gar zum Guten zu wenden, wäre da nicht die junge Frau, die er am Strand trifft und fortan zu lieben glaubt.

Das Schönste an dem Roman ist, dass er komplett in Dialogform geschrieben ist. Nicht einmal Regieanweisungen finden sich, lediglich die Ortsangaben dienen als Kapitelüberschriften zur Orientierung. Man lernt die Figuren im Gespräch kennen, kommt ihnen nahe, sieht sie deutlich vor sich, und das ist eine Leistung, weil Eggers es schafft, die Dialoge gleichzeitig fast durchgehend natürlich klingen zu lassen, statt sie mit Fakten und Erklärungen zu überfrachten. Je persönlicher die Geschichte für Thomas wird, desto besser die Dialoge. Nach der streckenweise doch sehr naiven und didaktischen Prosa von „Der Circle“ eine Erholung. Thomas steht da mit der Schuld der Väter und weiß nicht, wie er Buße tun soll, weil er die Propheten nicht findet, den Gott nicht kennt, für den es sich lohnt zu leben.

Dave Eggers: Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig? (Our fathers, where are they? And the prophets, do they live forever?) Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Gebundene Ausgabe. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 224 Seiten. 18,99 Euro. eBook 16,99 Euro.

liberalLiberal – interessiert das noch?

(AM) Durchgehend zweisprachig kommt dieser haptisch angenehm in der Hand liegende, kleine und bescheidene, aber gehaltvolle Band von NZZ Libro aus dem Verlag der Neuen Zürcher Zeitung daher. Mit der FDP in Deutschland unterm Radar und inhaltlich auf die Reklamesprüche ihres forschen jungen Vorsitzenden geschrumpft, ist es eine Weltzeitung aus dem Alpenland, die auf ihre ruhige Art einen Diskurs über die politische Idee des Liberalismus versucht. Die deutsch/ französische Publikation versammelt Gespräche mit (Schweizer) Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien über Privatsphäre, soziale Verantwortung, Migration, Religionsgemeinschaften, Demokratie und Recht, Umwelt und Familie. Viel Blödsinn findet sich da nicht, aber Haltung und Nachdenklichkeit. Hier mischt ein Zeitungsverlag sich auf gediegenem Niveau und mit ebensolcher Zurückhaltung in den politphilosophischen Kursiv, kann damit nur Punkte sammeln – und eventuelle Mindereinnahmen gelassen unter Imagegewinn verbuchen. Chapeau!

Auf eine solche, nicht direkt mit einer kurzfristen Werbeeinnahme verbundene Publikation werden bundesdeutsche Zeitungen wohl mit seltsamen Augen schauen. Deren Seitenschwund und redaktionelle Sparmaßnahmen haben, gerade besonders auffällig bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ den Bereich des Erbarmungswürdigen erreicht. Während der Internationalen Automobilausstellung verkaufte die FAZ die Seiten Zwei und Drei als doppelseitige Anzeige an BMW – eine so noch nicht dagewesene Prostitution im bundesdeutschen Zeitungswesen. Den Großteil der Woche über sind die FAZ-Zeitungsbücher auf acht oder maximal zehn Seiten, dies sogar auch im Politikteil, herabgesunken. Je 16 Seiten waren als Druckbogen einmal üblich für die wichtigen Ressorts. Und dann, am Ende einer mageren, viele Abonnenten schockierenden Mitt-Septemberwoche wurde eine Preiserhöhung verkündigt. Bei gleichzeitig erkennbar erheblich geschrumpfter Leistung. Die Neue Zürcher dagegen bietet ihren Abonnenten anstelle von dekadent-zombiehaften Luxusmode-Journalen (wie die FAZ) die umfangreichste Filmzeitschrift im deutschsprachigen Raum, dies einmal im Quartal. Sie heißt „Frame“. (Ein CM-Hinweis hier.)

Fulvio Pelli, Béatrice Acklin, Yann Grandjean (Hg.): Was heisst denn heute liberal? Liberale Antworten auf Herausforderungen des 21. Jahrhunderts (Que veut dire être libéral aujourd’hui? Les réponses libnérales aux défis du 21e siècle. Broschur, zweisprachig, 20 Illustrationen. NZZ Libro, Zürich 2015. 168 Seiten. 28,00 Euro.

ilitcheva tageHeftig, aber echt: Social-Media-Entzug als Kunstprojekt

(SW) Seit wenigen Wochen auf dem Buchmarkt: ein großes, blaues, schönes Buch zum Staunen und Bewundern. Es gehört zur einer neuen Literaturreihe, die der österreichische Verlag Kremayr & Scheriau in diesem Herbst erstmalig ins Rennen schickt. Von Senta Wagner

Die „183 Tage“ der Ianina Ilitcheva sind das Statement aus dem Innenleben einer Künstlerin und ihres stillgelegten sozialen Umgangs („Social-Media-Nulldiät“, aber „Briefe sind sehr erwünscht“). Angelegt als sechsmonatiges „Experiment der Selbstentziehung“ arbeitet das Werk an den Schnittstellen der Bild- und Textpoesie und der Dokumentation. Es ist ein kunstvolles Sammelsurium an deutsch und englisch beschriebenen, bekritzelten und vollgeklecksten Notizzetteln sowie ganzseitigen Zeichnungen (als Faksimileabdrucke) in den Farben blau und schwarz – kräftiger Tuschestrich neben feinem Duktus –, Strophenformen, Miniaturen, Tages- und Monatsnachrichten, floralen Fundstücken. Achtung Spezialeffekt: der sich ergibt durch die vereinzelten querformatigen Fotoinserts auf Transparentpapier. Wie hübsch die Buchseiten durchschimmern. Es sind Selbstporträts der Künstlerin, die sie statuenhaft im jahreszeitlichen Reigen zeigen an immer der gleichen Stelle im Garten ihrer Wohnhausanlage. Zeit vergeht, auch in der Isolation.

So feinsinnig in ihrer Wahrnehmung und offen in der Aneignung von verschiedenen Techniken Ilitcheva ist, so wandelbar ist auch ihre eigene Handschrift. Sie liest sich wie ein Psychogramm der Autorin. Kaum eine, die man zweimal entdeckt.

„183 Tage“ entstand von August 2012 bis Februar 2013, ein Art Diary will es aber gar nicht sein, denn bewusst wird auf präzise Datumsangaben verzichtet. Dagegen spiegelt es mit jedem Eintrag seine eigene Genese wider und setzt das Gefühl der Leserschaft für diesen langen erschöpfenden Zeitraum völlig außer Kraft, schließlich lesen wir nicht 183 Tage lang.

Wir nehmen teil an intimen Momenten, Erkenntnissen, an nichts Besonderem, traurigen und besorgniserregenden Geschehnissen wie an der allgegenwärtigen Stille, die die Autorin umgibt. An manchen Tagen gibt es keine Eintragungen, an anderen dafür mehrere, im Ton sprudelnd, unglücklich, existenziell, reflexhaft, berührend, angstvoll, witzig, rätselhaft, banal und nachdenklich. Alles eine Frage der Tages- und Nachtverfasstheit. Jeden Monat gibt es darüber hinaus einen Bericht an die Außenwelt. Ilitchevas Auskünfte klingen dann so: „… dann lebt man einfach, in den Tag und in den nächsten hinein: Termine, Bürokratie, Familie, Haushalt, Fernsehen, Schlafen.“ An Tag 32 fragt sie sich dagegen: „WAS PRÜFE ICH?“ Wahrscheinlich jeden Tag sich selbst, die eigene künstlerische Inspiration, das Kunstschaffen, den Willen, die Reste bestehender Neugierde. Sie hält ein halbes Jahr durch, mit Regelbrüchen, Widerständen, Alkohol. An Tag 92 im November ist die Sache klar: „Es passiert etwas Wichtiges, hier.“ An Tag 119 das Gegenteil: „Das ist die Krise der Kunst, vor der ich mich gefürchtet habe. Es ist nichts in mir. Nichts. Gar nichts. (…) Ich sieche dahin. Es ist nicht schön. Die Wahrheit ist, ich fühle mich abgeschnitten, sowohl von meinem Leben nach außen als auch von meinem Innenleben. Ohne Aktion oder Redaktion. Ich bin einfach nur noch da.“ Es verwundert nicht, ab Tag 160 wächst der Wunsch nach dem Ende: „Ich bin froh, dass es bald vorbei ist.“ Wir sind froh über das Buch.

35/183

Die Nacht gehört mir.
Sie ist mir viel zu groß.

69/183

ALLES IST SO LAUT.
DAS LEBEN IST
SO LAUT; ES SCHREIT
‚LIEBE MICH‘,
‚BENUTZ MICH‘.

Ianina Ilitcheva: 183 Tage. Wien: Verlag Kremayr & Scheriau 2015. 252 Seiten. (Adaptiert für culturmag vom Hotlistblog)

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