Geschrieben am 1. April 2016 von für Bücher, Litmag

LitBits: Kurze Besprechungen neuer Bücher

Neue Bücher von Henning Ahrens, Boris Fishman, Rolf Rietzler, Karsten Lampe, Joachim Meyerhoff, Gary Shteyngart, Patrizia Nanz, Claus Leggewie, Hallgrímur Helgason, Michael O’Neill, Hellmut Lemmer, Hans Herbert Grimm, Shida Bazyar und Orna Donath – besprochen von Alf Mayer (AM), Michael Höfler (MH), Karsten Herrmann (KH), Bruno Arich-Gerz (BAG), Jörn Borges (JB), Zoë Beck (ZB) und Ulrich Noller (UN).

ahrens_glantzDie Heimat und der böse Wolf

(KH) – Ein wagemutiges, poetisch-märchenhaftes Stück Literatur legt der auch als Lyriker und Übersetzer tätige Henning Ahrens mit „Glantz & Gloria“ vor und nimmt dabei zugleich das hochaktuelle Thema von Fremdenhass und dumpfen braunen Ressentiments ins Visier.

„Mein Name ist Rock Oldekop, und ich nehme keine Drogen […]. Ich kotze Rauch. Und rotze Feuer.“ So führt Henning Ahrens seinen Protagonisten ein, der anfangs mit dem Fahrrad durch den Deister, ein deutsches Mittelgebirge radelt. Sein Ziel ist der Weiler Glantz, denn „hier hauste die Heimat“ und hier verlor er in früheren Jahren bei einem geheimnisvollen Brand seine Eltern.

In Glantz findet Rock Oldekop in der märchenhaften und seine Räumlichkeiten immer wieder verändernde Mühle des zugewanderten radikalen Vegetariers und bekennenden Schnapstrinkers August Landauer Unterschlupf. Er trifft die junge Ärztin und mit titelgebende Gloria, mit der in der Speisekammer anbandelt und die alsbald darauf auf mysteriöse Weise verschwindet. Er trifft den alten Koraschke, der aus einer alten Unternehmerfamilie stammt und sich den Hass der Glantzer zugezogen hat, weil er sein Geld in Kunst statt in Arbeitsplätze investiert. Und er trifft auf die braunen Horden von Glantz, die vor der Mühle Landauers ihre dadaistisch verballhornten Parolen schreien: „Das Schlupfloch, aus dem der Schnupf kroch, der Schnodder, der Schleim – das ist unser Heim!“

Ohne ein sicheres Raum-Zeit-Kontinuum führt Henning Ahrens den Leser in seinem märchenhaften Roman durch ein „Panoptikum des Haltlosen“, in dem es von Traum- und Realitätssplittern, von raunenden Andeutungen und Geheimnissen nur so wimmelt. Die Dinge und Häuser erwachen in expressionistischer Manier zum Leben, der Himmel ist „grün wie Eichenlaub, der Mond eine Quitte mit rosigem Hof“. Die Heimatsuche des Rock Oldekop steuert dabei auf einen explosiven, surreal-grotesken Höhepunkt zu, der seinesgleichen in der Literatur sucht.

„Diese Geschichte ist so wahr wie ein Lüge falsch ist“, warnt Rock Oldekop zu Beginn des Buches. Und so ist „Glantz & Gloria“ eine fantastische literarische Reise ins Ungewisse, eine Heimatsuche, bei der sich die Heimat als böser Wolf zu entpuppen droht.

Henning Ahrens: Glantz und Gloria. Roman. S. Fischer, 2016. 174 Seiten. 18,99 Euro

Fishman_BDer_Biograf_von_Brooklyn_164318Holocaust – eingebettet in eine heutige Geschichte

(UN) – Wie kann man heutzutage noch vom Holocaust erzählen? Kann man überhaupt noch vom Holocaust erzählen? Man kann, mit Witz und Gefühl, so wie der New Yorker Autor Boris Fishman in seinem Debütroman „Der Biograf von Brooklyn“. Und zwar so: Slava Gelman, um die 30, arbeitet für ein New Yorker Magazin. Sein Traum ist es, ein bekannter Publizist zu werden. Einstweilen wartet dieses Ziel allerdings noch in weiter Ferne, Slava ist für eine Hilfsarbeit bei der Witzeseite zuständig. Bislang ist sein Leben nicht eben eine Erfolgsgeschichte. Immerhin, er hat es geschafft, sich von der übermächtigen Familie zu lösen, wegzugehen aus Brooklyn, in Manhattan zu leben. Dann kommt ein Anruf, Slavas Oma ist gestorben. Das war’s mit der Freiheit und mit der Unabhängigkeit für ihn, es geht zurück nach Brooklyn, mitten hinein in den Wahnsinn der Familie – und des Immigrantenmilieus weißrussischer Auswanderer, die ihr Viertel niemals verlassen, für die schon Manhattan eine weit entfernte, fremde Welt ist.

Allen voran Slavas etwas irrer Großvater, und der hat nach dem Tod seiner unendlich geliebten Frau ein dickes Problem: Sie hat kurz vor ihrem Tod beim Fonds für die Holocaust-Opfer in Deutschland eine Entschädigung beantragt. Was noch fehlt, ist die Begründung, man muss ja anhand seiner Lebensgeschichte genau erklären, warum man berechtigt ist. Der Opa möchte auf die mutmaßlich hübsche Summe nicht verzichten, und da er einen Enkel hat, der immerhin „Schriftsteller“ ist, dachte der Alte, dass der Junge, Slava, die Begründung ja schreiben könne. Das Ganze funktioniert, und plötzlich hat der – eher unwillige – Biograf von Brooklyn noch diverse andere Senioren aus der Community am Hals, denen er in einer Mischung aus Fakten und Fiktion ihre Entschädigungs-Geschichte schreibt. Was Slava nicht weiß: Sein Großvater macht gutes Geld mit dem Ganzen, für jeden erfolgreichen Antrag kassiert er im Namen des Enkels 500 Dollar.

Und so kommen drei Ebenen zusammen: Die Geschichten der Holocaust-Überlebenden, die er entschädigungsgerecht getrimmt hat. Die Geschichte der Einwanderer aus der ehemaligen UdSSR, speziell aus Weißrussland, in die USA. Und das New Yorker Großstadtleben eines etwas neurotischen jungen Mannes, der sich eigentlich um jeden Preis aus dem Spinnennetz seiner Herkunfts-Community lösen möchte und doch immer wieder eingefangen wird von den Prägungen, denen er sowieso nicht entfliehen kann.

Boris Fishman, geboren 1979, wanderte selbst samt Familie aus Weißrussland in die USA ein, als Neunjähriger – er weiß also, wovon er schreibt. Wie Fishman schreibt, das ist bezaubernd: „Der Biograph von Brooklyn“ ist ein toll komponiertes, stilsicheres, gewitztes Debüt mit Witz, Pfiff und Gefühl. So kann man vom Holocaust erzählen – er bleibt wach und in Erinnerung, und trotzdem ist er eingebettet in eine absolut heutige Geschichte.

Boris Fishman: Der Biograf von Brooklyn. Übersetzt von Friedrich Mader. Blessing, 2015. 384 Seiten. Euro 19,99.

rietzler_mensch_adolfEs ging ein Seufzer durch das Volk

(AM) – Hier schreibt kein Historiker über das Deutschland-Narrativ, sondern ein politischer Journalist, temperamentvoll und subjektiv, böse und kritisch, auch der eigenen Zunft gegenüber. Das Unterfangen ist weitumspannend, mehr als zehn Jahre hat der Autor mit dem Vorhaben verbracht. Es geht um nichts weniger als die Bilanz von Jahrzehnten deutscher Mentalitätsgeschichte, es geht um politische Lebenslügen und Opfermythen. Fans von Helmut Schmidt sollten gewisse Kapitel besser nicht lesen.

Rolf Rietzler (Jahrgang 1941), 20 Jahre Redakteur beim „Spiegel“, davon zehn Leiter des Serienressorts mit dem Spezialgebiet Zeitgeschichte, arbeitet Phasen heraus: Hitler als Dämon und Sündenbock (1949-1959), als Phantom und Hampelmann (1960-1972), als Superstar und Schtonk (1973-1983), als Streitobjekt und Jubilar (1984-1989), als Reizfigur und TV-Marke (1990-1999). „Seitenhiebe“ genannte Kapitel gibt es zum Buch-Führer, zum Horror-Hitler (vor allem in der „Bild“-Zeitung), zum Knopp-Hitler, zu Hitler und den Generälen, und ein ziemlich böses zu „Hitlers Krieg, (Helmut) Schmidts Pflicht“.

Erhellende und böse Passagen finden sich zuhauf, etwa, dass KZs auf den deutschen Landkarten eigentlich nur an Gedankentagen vorkommen. Oder die über das publizistische und politische Personal der Republik, über den „Spiegel“-Chefredakteur Claus Jacobi etwa, der später bei Springer seine Heimat fand, über Joachim Fest, über den Hokuspokus aus der Guido-Knopp-Fabrik, über Herbert Reinecker, den ehemaligen Propagandaherold der Hitlerjugend und „Derrick“-Schöpfer, der 1990 in seinen Memoiren den Tag, an dem der Zweite Weltkrieg begann, so beschrieb: „Es ging ein tiefer Seufzer durch das Volk.“

Rolf Rietzler erzählt, wie „Stern“-Chef Nannen ihm im Taxi die Sache mit Hitler und dem Krieg erklärte und wozu Nannens Klammerhoffnung an einen anderen, besseren Hitler führte (Stichwort: Tagebücher). Schlechte Zeiten, gute Zeiten, so könnte man das Hitler-Bild der Deutschen seit 1945 zusammenfassen. Er ist ein Markenzeichen, das sich verselbstständigt hat, ein Witz, den der Theatermacher George Tabori so auf den Punkt brachte: „Der kürzeste deutsche Witz ist Auschwitz.“ Ein wichtiges Buch.

Rolf Rietzler: Mensch, Adolf. Das Hitler-Bild der Deutschen seit 1945. C. Bertelsmann Verlag,  München 2016. 544 Seiten. 24,99 Euro.

Lampe_ErkläranlageGanz weit zurückgelehnt

(MH) – Wo heute manche Roboter bereits erschreckend menschliche Gesichtszüge aufweisen, tut Karsten Lampe gut daran, eine Maschine sein zu wollen. Zwar macht er als „Erkläranlage“ nicht mehr, als wie andere Autoren auch den Alltag und das Leben (in Berlin) zu reflektieren. So erfährt man über Demokratie: „Wahl, das kommt von wollen. Nicht von kriegen.“ Oder über Fähigkeiten: „Wenn niemand weiß, dass ich es kann, kann ich es dann?“ Dabei ist Lampes Wortschatz so groß wie die Assoziationsräume, aus denen er sich bedient. Die übliche Übergefälligkeit von Slam- und Lesebühnen-Texten weiß er meist zu vermeiden.

Wenn er um die Ecke denkt, wird der Leser dahinter nicht vorhersehbar vor den Kopf gestoßen, sondern mit seinen angestoßenen Gedanken allein gelassen. Lampes Erzählhaltung ist so weit zurückgelehnt, dass man es dem Wald nicht krumm nimmt, dass er bloß eine Ansammlung von Bäumen ist. Am Ende bleibt die Welt zwar im Großen und Ganzen unerklärt, aber auf eine Art, die sich sehr gut anfühlt.

Diese Lesebühnen-Texte funktionieren (abgesehen von den Gedichten) auch gelesen. Dass Karsten Lampe es auch auf der Bühne kann, weiß man aus dem TV oder kann es ermessen, indem man sich acht Texte (davon einer nicht im Buch) zu Ohren führt, die als Audiofile im Netz stehen.

Karsten Lampe: Erkläranlage. Satyr-Verlag, 2016. 144 Seiten. 12,90 Euro. Zur Homepage des Autors.

meyerhoff_lückeEntspannt, spielerisch und mit großem Herzen erzählt

(UN) – Eines der erstaunlichsten Phänomene in den Bestsellerlisten der letzten Jahre war – und ist – der Erfolg der Geschichten von Joachim Meyerhoff, geboren 1967. Meyerhoff? Kein Prominenter, kein „richtig“ Prominenter zumindest. Meyerhoff ist (Theater-)Schauspieler, er hat ein paar Jahre in Hamburg gespielt, seit zehn Jahren ist er Ensemblemitglied beim Burgtheater in Wien. Keiner, bei dem man erwarten könnte, dass Hunderttausende zugreifen, wenn er seine Lebensgeschichte erzählt. Genau das geschah allerdings – zunächst in „Alle Toten fliegen hoch“ (erschienen 2013) und „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?“ (Anfang 2015).

Im dritten Teil seines Erinnerungszyklus – „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“) – erzählt Meyerhoff aus den 1980er Jahren, von seiner Zeit bei der Münchener Schauspielschule – und vor allem von seinen Großeltern, bei denen er seinerzeit lebte. Genau genommen spielt er, der Erzähler, eigentlich bloß eine Nebenrolle: Die Großeltern stehen im Zentrum, ein liebenswert schrulliges, großbürgerliches Gespann, er Philosophieprofessor um Ruhestand und sie ehemalige Schauspielerin.

Die großartigen, großherzigen – stets leicht angetrunkenen – Großeltern sind es einerseits, die einen für dieses Buch einnehmen, Meyerhoffs Hommage ist aller Ehren wert. Andererseits ist es auch die Art, wie Meyerhoff von ihnen und von sich erzählt: entspannt, spielerisch – und ebenfalls mit großem Herzen. Ob das den Erfolg erklärt, keine Ahnung. Verdient ist er allemal.

Joachim Meyerhoff: Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke. Kiepenheuer & Witsch 2015. 252 Seiten. 21,99 Euro.

Mittelweg 36Sozialforschung auf der Höhe der Zeit

(AM) – Die aktuelle sogenannte Flüchtlingskrise (siehe auch das Buch „Hass und Hoffnung“ von Metz/ Seeßlen in dieser LitMag-Ausgabe), oder besser gesagt, die offenkundig gescheiterte Abschottungspolitik Europas hat die Debatten um Asylrecht und um angemessene nationale Zuwanderungspolitiken neu entfacht. Die neueren Erkenntnisse der Migrationsforschung könnten hier vermutlich helfen, nähme man sie zur Kenntnis. Dirk Hoerder fächert sie in ihrer globalhistorischen Perspektive im Heft 1/2016 von „Mittelweg 36“ auf, der immer wieder interessanten Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung.

Der 30 kompakte Seiten umfassende Aufsatz fächert eine Geschichte von unten auf, ohne Migranten wären die Industrialisierung der USA, das Wirtschaftswunder der Bundesrepublik oder die Urbanisierung Chinas gewiss anders verlaufen. Ebenfalls 30 informative Seiten nimmt sich der Wirtschaftswissenschaftler Peter Gatrell aus Manchester für einen Rückblick auf die neuere Geschichte des Asylregimes, 1945-1960: „Flüchtlingen ihren Platz zuweisen.“ Der Princeton-Anthropologe Didier Fassin beschäftigt sich mit der moralischen Ökonomie der Asylvergabepraxis im heutigen Europa: „Vom Rechtsanspruch zum Gunsterweis.“

All dies ist Sozialforschung auf der Höhe der Zeit, die Redaktion im Hamburger Mittelweg leistet beste Arbeit. Als Bonus gibt es für Leser obendrauf einen Essay von Jan Philipp Reemtsma zum Thema „Machtergreifung als konkrete Utopie“. Man kann 9,50 Euro für weit Dümmeres ausgeben.

Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Schwerpunkt: Wandern. Zur Globalgeschichte der Migration. 25.Jahrgang, Heft 1, Februar/ März 2016. 94 Seiten, 9,50 Euro.

shteyngat_versagerVon Leningrad nach New York

(JB) – Thees Uhlmann singt in einem seiner Lieder „Du kriegst die Leute aus dem Dorf aber das Dorf nicht aus den Leuten.“ Das könnte auch als Leitspruch des Romans „Kleiner Versager“ von Gary Shteyngart gelten (Rowohlt 2015). Shteyngarts erkundet die Mentalität jüdischer Einwanderer und schafft eine anrührende Geschichte vom Erwachsenwerden.

Er erzählt in atemlosem Tempo von dem kleinen Gary, der eigentlich Igor heißt, und um die Anerkennung seiner russischen Eltern kämpft. Nachdem uns der orientierungslose Mittzwanziger vorgestellt worden ist, öffnet sich schnell sein Familienalbum. Shteyngart lässt seinen Protagonisten von seiner Geburt an durch ein ebenso selbstironisch wie komisch beschriebenes Panorama der untergehenden Sowjetunion wandern, um ihn dann 1979 in die immer lächelnden USA der Reagan-Ära ankommen zu lassen.

Hier fängt die USA die jüdische Community auf. Klein Gary kompensiert seine Existenz als kleiner Versager mit der Freundschaft zu einem einäugigen Mädchen aus der Nachbarschaft und wilden Parallelgeschichten zum Krieg der Sterne. Köstlich beschreibt Shteyngart die Jagd seiner Eltern nach den Symbolen erfolgreicher Integration, bei der sie nie aus ihrer Leningrader Haut kommen. Am Ende landen sie in Eigenheim, Hypothekenzinsen s und der Geborgenheit der jüdischen Community.

Ihr Sohn verliert sich in immer rasanterer Fahrt durch sein Studium. Shteyngart zeigt sich in dieser Passage belesen, erzählt mit großer Leichtigkeit, seine eigene Person erscheint in den Studienjahren jedoch nicht sehr authentisch. So kommt der ständig bekiffte Gary zwar nicht in der amerikanischen Mittelstandfamilie an, schafft aber doch das geforderte Prädikatsexamen.

Tiefe erhält der Roman erst dann wieder, als es um den Kontakt zu den Eltern geht. Bei der gemeinsamen Reise nach Leningrad, das jetzt Petersburg heißt, öffnet sich die Tragödie der Stadt, die so tief in diese Migrantengeschichte hineinreicht. Hier werden die Eltern und auch der kleine Versager in ihren Erinnerungen und Erzählungen greifbar, wird Shteyngarts Erzählen bedeutsam.

Gary Shteyngart: Kleiner Versager. Roman. Übersetzt von Mayela Gerhardt. Rowohlt Verlag 2015. 480 Seiten. 22,95 Euro.

Nanz_leggewie_konsultativeFundierter Vorschlag, dem im Buch die Leidenschaft fehlt

(MH) – Bürgerbeteiligung wird gerade durch die Rechten und Impulsgetriebenen gründlich diskreditiert. Auf diesen Einwand musste Claus Leggewie bei einer Diskussion im Rahmen der Leipziger Buchmesse zuerst reagieren (das Instrument zurückokkupieren!). Im schlanklektorierten Buch benötigen Patrizia Nanz und Leggewie 56 der 92 Seiten, um ihren Vorschlag für ein „Netz konsultativer Gremien, das sich über die gesamte Republik erstreckt und von der Gemeindeebene über die Länder in den Bund und die Europäische Union aufsteigt“ zu rechtfertigen und einzubetten: Problemgemengelage, Begrifflichkeiten, Historie, Arten und Funktionen von Partizipation, Menschenbild. Nach diesem tadellosen, routinierten Teil wird der Vorschlag nach einer „Konsultativen“ konkret um die Stichpunkte Zufallsauswahl, Repräsentativität, Institutionalisierung, aber kein imperatives Mandat, „Weisheit der vielen“, Langfristigkeit, Gruppendynamik und professionelle Begleitung ausgeführt.

Beispiele zeigen, dass Nanz und Leggewie sich auch praktisch mit Partizipation auskennen. Bei der Diskussion in Leipzig erfuhr man zusätzlich, dass Leggewie an mehreren verwandten Initiativen beteiligt ist, und der Kollege Harald Welzer unter dem gemeinsam entwickelten Konzept „Futur 2“ bereits Bürgerversammlungen einberuft, in denen sich große positive Energien des Volkes artikulierten. Indes spreche Leggewie bereits mit Politikern über sein Konzept, und wie dieses trotz derzeitiger Ablehnung irgendwann realisiert werden könnte.

Nach Lektüre des sachlich-nüchtern geschriebenen Buches mag man an diesen Ansatz einer Erneuerung der Demokratie von unten nach glauben oder nicht. Größer stehen die Chancen, wenn man mit Leggewie live und leidenschaftlich diskutiert. Da erfährt man z.B. auch, warum es gar nicht anders gehe, und wie man die Politik überhaupt dazu bringen könne, dafür notwendigerweise Macht abzugeben.

Patrizia Nanz, Claus Leggewie: Die Konsultative. Klaus Wagenbach Verlag, 2016. 112 Seiten. 9,99 Euro.

helgason_seekrankSeekrank in München

(UN) – Das Leben in der „alten“ BRD, vor der Wende, ist derzeit wieder ein großes Thema in der Literatur. Hallgrímur Helgason wagt in seinem Roman „Seekrank in München“ einen ganz besonderen Blick auf diese Zeit – autobiographisch, mit isländischer Perspektive.

Helgason erzählt von Jung, einem Mann von Anfang 20, der aus Reykjavík nach München kommt, er wollte mal weg aus der drögen Langeweile Islands, hat eher zufällig einen Platz an der Kunstakademie in München bekommen. Na ja, beinahe, erstmal muss er einen Aufnahmetest bestehen, aber davon hat Jung keinen Schimmer, er fährt erstmal hin nach Bayern, spätsommers, im viel zu warmen Wintermantel, mit zwei dicken Koffern; mal schauen, was da dann passieren wird.

Genau genommen, geschieht gar nicht viel in „Seekrank in München“: Jung ist unterwegs, er kommt an, er trifft – merkwürdige – Menschen: die Deutschen, die Bayern vornehmlich, er kehrt irgendwann zurück.

Und er begegnet, natürlich, sich selbst. Beziehungsweise: Er ist auf dem Weg, sich selbst zu begegnen, was nicht einfach ist, sowieso nicht in dem Alter, und schon gar nicht, wenn man so drauf ist wie Jung, der einerseits die Klamotten des Großvaters aufträgt, andererseits Punk und Anarchie im Herzen trägt, drittens aber so verunsichert ist, dass er am liebsten irgendwo wäre, nur da nicht, wo er gerade ist.

Was „passiert“ in diesem Roman, das ist die Beobachtung, das Zusammentreffen des merkwürdigen Isländers mit den seltsamen Deutschen bzw. Bayern, die Beobachtung auch der engen, strukturierten Gesellschaft der BRD der Achtziger Jahre. Hallgrímur Helgason präsentiert diesen Blick mit staubtrockenem Humor, lakonischen Bildern, feiner Situationskomik – und mit einem Helden, der von einem Schlamassel in den nächsten stolpert. Auch deshalb, weil er unerklärliche Magenprobleme hat und immer wieder eine lavaartige Masse ausspucken muss, die sich bloß dann nicht entzündet, wenn er sie in einem großen Bierglas auffängt, was den Alltag, na ja, mit Hürden versieht.

Hallgrímur Helgason, geboren 1959, Künstler und Schriftsteller, ist einer der eher unbekannten Großen der zeitgenössischen Literatur, und er ist einer der wenigen, die richtig komisch erzählen können, ohne dass es zur hohlen Blödelei wird. Einige Szenen aus „Seekrank in München“, insbesondere die mit der Lava des Unbehagens am Leben, gehören zum Besten, was die Literatur in der Hinsicht in den letzten Jahren zu bieten hatte.

Hallgrímur Helgason: Seekrank in München. Tropen, 2015. 416 Seiten. 19,95 Euro.

neil_yogaDen Geist fotografieren

(AM) – Yoga bedeutet „Vereinigung“, das Einswerden von Atem und Körper, von Geist und Muskeln, von Körper, Seele und Geist, „letztlich von Schöpfung und Schöpfer“, wie der als lebender Heiliger betrachtete Swami Chidanand Saraswatiji in seinem Vorwort betont. „Asana“ bezeichnet die beim Yoga eingenommen Körperhaltungen, Fotobände über Yoga zeigen meist nur ihre Schönheit und Ausgewogenheit. Den Geist des Yoga selbst im zweidimensionalen Abbild einzufangen, das unternimmt Michael O’Neill in seinem großformatigen, in zehnjähriger Arbeit entstandenen Bildband „Über Yoga“ mit dem Untertitel „Die Architektur des Friedens“. Gegliedert ist der Band in Wasser, Erde, Feuer, Luft und Geist. Ein Glossar am Buch-Ende hilft Yoga-Einsteigern.

Das Titelbild zeigt den Yogalehrer Nageshwar Giri bei der  „Durvasasana“ (Haltung des zornigen Weisen in gehockter Ausführung), auf der Rückseite steht Dharma Mitra im freihändigen Kopfstand auf einem Kanaldeckel in New York. Rings um die Welt hat Michael O’Neill, der seit Nixon jeden amerikanischen Präsidenten und jede Menge Prominente fotografierte, viele Yoga-Lehrer und -Meister im Zustand der vollkommenden Versunkenheit vor seine Kamera bekommen können. Für viele von ihnen war es das erste Mal, dass sie sich dabei fotografieren ließen. Entstanden ist ein Buch, in das man buchstäblich versinken kann, das Papier ungemein haptisch für einen Fotoband, die Bilder eine Reise.

Michael O’Neill: Über Yoga. Die Architektur des Friedens. Taschen Verlag, Köln 2015. 290 Seiten, rund 200 Farbfotografien. Gebunden, mit Ausklappseiten und zwei verschiedenen Papiersorten, 49,99 Euro. Zur Homepage des Autors.

lemmer_namibBestens recherchiert

(BAG) – „Remembering Africa“ ist der Titel einer germanistischen Fleißarbeit des Nottinghamer Literaturprofessors Dirk Göttsche, die 2013 durch umfangreiche Detailanalysen von nachkolonialen deutschsprachigen Erzähltexten auf sich aufmerksam machte. Zu den untersuchten Texten gehören avancierte belletristische Afrika-Romane wie die von Uwe Timm („Morenga“, 1978) oder Christof Hamann („Usambara“, 2007). Besprochen wird aber auch eine Vielzahl kaum bekannter Autoren wie Manfred Gebert mit „Weltwitschia Mirabilis“ (2008), die wie Timm die deutschkoloniale Vergangenheit im heutigen Namibia thematisieren, ohne dass sie höhenkammliterarisch daherkommen (wollen). Stattdessen dokumentieren diese Texte die eigene Familienvergangenheit in schriftstellerisch einfacher, dafür aber informierter und den kolonialen Alltag detailliert widerspiegelnder Weise.

Hellmut Lemmers „Der Sand der Namib“, eine romanesk überformte Familiensaga um Missionar Karl Skär von der Rheinischen Missionsgesellschaft, fällt auf den ersten Blick in die letztgenannte Kategorie. Zugleich artikuliert sie in ihrer Anlage Ansprüche auf mehr.

Skär verschlägt es um 1910 in das von kaiserdeutschen Schutztruppen besetzte Südwestafrika, wo er im nördlichen Ovamboland die Obliegenheiten des pater familias mit denen des bekehrenden Pastors unter einen Hut zu bringen sucht. Zwischen 1915 und 1930 kommt er auch im von deutscher Kolonialherrschaft befreiten Land seiner angestammten Tätigkeit nach und bewährt sich im von Sand und Diamantenfieber überhitzten Milieu der Namibwüste. Bereits im Prolog wird deutlich, dass zwischen Schriftsteller und Missionarsfigur Familienbande gespannt sind und zwei Generationen zwischen beiden liegen. Hier schreibt also ein Enkel über das Wirken seines Großvaters und das Großwerden von dessen Tochter, seiner Mutter, die mit drei Schwestern in Lüderitzbucht und Pomona im Südwesten des heutigen Namibias heranwächst, ehe sie in den späten 1920er Jahren in ein ihr bis dahin unbekanntes Deutschland verbracht wird.

Die Brechungen in der Darstellung der erzählten Zeit der Handlung, die eingestreut werden, deuten hin auf die Vertrautheit des Autors mit schriftstellerischen Tricks, die mit einem Sprung aus dem Erzählfluss die Darstellung von – aus heutiger Warte – erinnerungskulturell kontroversen Topoi zum Gelingen bringen können. Dreimal wird die Erzählchronologie untergebrochen, um aus der Retrospektive auf das Geschehene zu reflektieren.

Dass dies einmal vom studentenbewegten Ich-Erzähler im Jahr 1968 erfolgt, erinnert zwangsläufig an „Morenga“. Die Reminiszenz bleibt jedoch beschränkt auf eine Episode und wird damit zum Aperçu, das die episodenreiche Schilderung des Aufwachsens der Mädchen des Missionars einleitet, die sich mitsamt ihrer afrikaskeptischen Mutter mit „den Negern“ mal ins Benehmen setzen und mal durch sie in Schrecken versetzt werden. Auch die anderen Zäsuren im Erzählfluss werden nicht ausgebaut zu kontrapunktischen Interventionen in eine Darstellung, die sich damit allenfalls im Modus des historischen Präsens verstehen lässt als écriture postcoloniale (oder postmissionaire). Was schade ist, denn „Sand der Namib“ ist auch ein Roman voller bestens recherchierter (oder abgelauschter), wundervoll zur Darstellung gebrachter und vor allem bislang unbekannter „landeskundlicher Kapitel“.

Hellmut Lemmer: Der Sand der Namib. Brockmeyer Verlag 2015. 372 Seiten. 17,90 Euro.

schlumpEines der verbrannten Bücher der Nazi-Zeit

(AM) – „Haben Sie Schlump schon gelesen?“ fragten die Reklamebroschüren des Kurt Wolff Verlages im Winter 1928/29. „Wenn nicht, dann versäumen Sie nicht, es so schnell als möglich zu tun.“ Aber der Ullstein Verlag mit der weit größeren Werbetrommel hatte damals einen anderen Bestseller auf dem Markt: Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“. Von den Nazis auf Scheiterhaufen verbrannt wurden schließlich beide Werke – Kriegsbücher, wie sie gegensätzlicher kaum sein könnten.

Remarques Roman blieb eine Größe, der anonym im Verlag von Kafka, Zweig, Schickele und Trakl veröffentlichte „Schlump“ geriet in Vergessenheit. Es ist ein „Märchen mit Wahrheitsemphase“, wie Volker Weidermann in seinem informativen Nachwort meint. „Ein Buch, in dem ein reiner Held durch eine Hölle geht, beinahe den Glauben an das Gute in der Welt verliert und doch am Ende zurückkehrt in eine Art Idylle.“

Schlump geht durch den Krieg wie durch einen Traum, ein grüner Heinrich, ein gnädig tumber Bürger. Umso heftiger wirkt die in seiner Unschuld gespiegelte Gewalt. Eben weil der Roman nicht als Kriegsroman auftritt, sagt er Wahres über ihn. Der Autor, der Lehrer Hans Herbert Grimm, beschreibt darin eigene Erfahrungen im Ersten Weltkrieg. Unter den Nazis und danach in Ostdeutschland blieb er im Inneren Exil, mauerte das Buch in eine Hauswand ein. „Schlump“ ist ein interessantes Buch. Eine Wiederentdeckung. Und als Taschenbuchausgabe erhältlich.

Hans Herbert Grimm: Schlump. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. Taschenbuch, 350 Seiten, 9,99 Euro.

bazyar_nachtsEigenwillig im besten Sinne

(UN) – Iran in Deutschland, Deutschland im Iran – Shida Bazyar erzählt in ihrem glänzenden Debütroman „Nachts ist es leise in Teheran“, die Geschichte einer persisch-deutschen Einwandererfamilie. Diese Geschichte beginnt 1979 in Teheran. Die Macht des Schahs ist brüchig, Proteste und Demonstrationen allerorten, Umsturz liegt in der Luft. Für einen Moment scheint alles offen, nur einen Augenblick später ist die Revolte allerdings schon wieder vorüber, mit Chomeini ist ein neuer Despot an der Macht, der der „islamischen Revolution“. Behsad, der für eine kommunistische Zukunft seines Landes kämpfte, muss wenig später fliehen; zusammen mit der Dichterin Nurid, seiner großen Liebe, und mit Laleh, dem gemeinsamen Töchterchen.

Wie so viele persische Oppositionelle verschlägt es die Drei nach Deutschland, dort werden noch zwei Kinder bzw. Geschwister hinzukommen, Mo und Tara. Fünf Familienmitglieder also – denen Shida Bazyar in ihrem kunstvoll komponierten Roman in vier langen und einem kürzeren Kapitel jeweils eine Stimme geben wird. So erzählt sie aus verschiedenen Perspektiven von verschiedenen Zeiten der Familie im jeweiligen Umfeld. Unabdingbar damit verbunden ist einerseits die Zeitgeschichte des Iran, andererseits aber auch die der BRD, in der die „Kinder“ – im Gegensatz zu den Eltern – natürlich viel mehr zu Hause sind als im fernen Iran. Damit entstehen zwei große thematische Dimensionen: Politik und Zeitgeschichte auf der einen, das Leben zwischen oder auch: mit zwei Kulturen auf der anderen Seite.

Shida Bazyar, geboren 1988, ausgebildet an der Fakultät für literarisches Schreiben in Hildesheim, lebt in Berlin, sie stammt aber aus Hermeskeil in Rheinland-Pfalz, und man darf annehmen, dass die Geschichte ihres Debütromans mehr oder minder autobiographisch grundiert ist. Was diese Story von vergleichbaren Erinnerungs-Familienromanen mit Migrationshintergrund unterscheidet, ist ihre literarische Finesse: „Nachts ist es leise in Teheran“ ist intelligent konstruiert, schlau komponiert und toll geschrieben, eigenwillig im besten Sinne, ein glänzendes Debüt.

Shida Bazyar: Nachts ist es leise in Teheran. Roman. Kiepenheuer & Witsch 2016. 288 Seiten. 19,99 Euro.

Regretting Motherhood von Orna DonathNie mehr zurück können

(ZB) Schon ihre Studie über bereuende Mütter wurde heiß diskutiert, #regrettingmotherhood trendete lange auf Twitter und führte sowohl zu Missverständnissen als auch zu Geständnissen. Besonders regten sich deutsche Gemüter, weshalb der Münchner Verlag Knaus, Teil der Randomhouse-Gruppe, die israelische Soziologin Orna Donath anregte, ein Sachbuch zur Studie zu verfassen.

Dieses ist nun erschienen, und die Diskussion kocht wieder hoch, war eigentlich nie so ganz abgekühlt, weil zwischen Veröffentlichung der Studie und Erscheinen des Buchs noch einige andere Bücher zum Thema oder knapp am Thema vorbei auf den Markt gekommen sind. Das Thema steht eigentlich im Titel, ist aber offenkundig nicht nur ein Stein des Anstoßes, sondern vielen nicht ganz klar: Es geht um Mütter, die es dauerhaft bereuen, Mutter geworden zu sein, und diesen Zustand in ihrem Leben rückgängig machen würden, wenn sie könnten – nicht, weil sie ihre Kinder nicht lieben, sondern weil sie mit der Rolle, dem gesellschaftlichen Zustand „Mutter“ nicht klarkommen. Es geht nicht um Mütter, die zeitweise überfordert sind, grundsätzlich aber den Umstand, Mutter zu sein, gut finden.

Es ist kein missionarisches oder therapeutisches Buch, sondern eine fast schon trockene Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zwängen und Erwartungen, mit der tatsächlichen Wahlfreiheit von Frauen. Es wurde mit nur 23 Frauen aus Israel intensiv gesprochen, damit ist es keine weltweit gültige, allumfassende Studie, und sie ist schon gar nicht auf die Situation von Frauen in Schwellen- oder Entwicklungsländern übertragbar. Donath relativiert dies auch, sie will aber vor allem einen Denkanstoß geben und das bestehende Tabu, Mutterschaft bereuen zu dürfen, in der Diskussion halten, um Frauen, die keine Mütter werden wollten, die Möglichkeit zu eröffnen, darüber auch laut nachdenken zu dürfen. Es ist kein flockig-unterhaltendes Sachbuch, im Stil zwar teils etwas akademisch-sperrig, aber verständlich. Die Interviews mit den Frauen sind ernüchternd, erschütternd, machen wütend, traurig, hilflos, sind nachvollziehbar, verständlich – alles zusammen. Es ist die Umkehrung dessen, was sich Frauen, die keine Kinder wollen, normalerweise anhören müssen: „Das wirst du noch bereuen, irgendwann ist es zu spät.“ Für diese Frauen war es mit dem ersten Kind zu spät.

Orna Donath: Regretting Motherhood: Wenn Mütter bereuen. Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr und Elsbeth Ranke. München: Knaus, 2016. 272 S., 16,99 €

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