Neue Bücher von Guillaume Musso („Vierundzwanzig Stunden“), Carina Nekolny („Fingerspitzen“), Hanns Zischler („Errata. Fehler aus zweiter Hand“) und Brigitte Schär („Unwetter“) – besprochen von Ulrich Noller (UN), Senta Wagner (KH), Alf Mayer (AM) und Frank Schorneck (FS).
Auf Zeitreise im Genre-Mix
(UN) Immer ein Highlight und immer ein Bestseller: der jeweils aktuelle neue Roman des Franzosen Guillaume Musso. „Vierundzwanzig Stunden“, Mussos aktueller Knaller, erzählt von einem Mann namens Arthur Costello, der sich im Keller eines alten Leuchtturms, den er geerbt hat, irgendwie in einer Zeitschleife verfängt: Er hat immer 24 Stunden, dann wird ihm schwummrig, er wird ohnmächtig – und wacht ein Jahr später wieder auf. Irgendwo, mitten in New York, zum Beispiel frühmorgens im Bett einer erfolglosen Nachwuchsschauspielerin.
Ganz alleine würde man das vielleicht, na ja, irgendwie hinbekommen, aber Costello verliebt sich natürlich bei einem seiner Aufenthalte, und Lisa, die Schauspielerin, wird ein paar Reisen später auch noch schwanger… Wie bringt man der Frau seines Lebens bei, dass man bloß einen Tag im Jahr Zeit für sie hat, weil man ansonsten auf Zeitreise unterwegs ist? Was tun, wenn die Frau, mit der man unbedingt noch einen Streit zu schlichten wünscht, ein Jahr später während der 24 Stunden nicht in New York, sondern in Europa ist? Was hat es überhaupt auf sich mit diesen Zeitsprüngen? Und wie kann Arthur dem Fluch des schlechten Endes entgegen, der, wie er erfährt, über diesen Reisen schwebt?
Keine Sorge: Guillaume Musso beantwortet all diese Fragen befriedigend und auch halbwegs plausibel. Okay, Musso war schon „realistischer“ mit seinen bezaubernden Genre-Mix-Romance-Thriller-Geschichten. Macht aber nichts, denn dieser Autor plottet so unbefangen und ungeniert und phantasievoll, dass man gerne ein Auge zudrückt und ihm (fast) alles abnimmt.
Guillaume Musso: Vierundzwanzig Stunden. Pendo 2016. 384 Seiten. 16,99 Euro.
Mit den Fingerspitzen sehen
(SW) Carina Nekolny fordert in ihrem bibliophil gestalteten Roman „Fingerspitzen“ die Wachsamkeit aller unserer Sinne und arbeitet dabei selbst mit großem sprachlichem Fingerspitzengefühl. Im Zentrum steht der taubblinde 18-jährige Thomas, seine beschränkte Lebenswelt auf dem Pensionshof der Eltern, seine Familie und sich selbst erschließt er tastend, über Berührungen, über Gerüche. Zur Wort kommt er freilich nicht, Unwillen und Ängste zeigen sich in regelmäßigen Wutanfällen, Glücksgefühle in Lauten und Gebärden.
Im Laufe der Zeit hat Thomas kleine Talente, Vorlieben und Abneigungen entwickelt. Dennoch bedeutet sein Leben vollkommene Abhängigkeit. Stets ist er auf die Unterstützung seiner Familie angewiesen, die ihm ebenso mit überbordender Liebe und Fürsorge wie mit Schuldgefühlen begegnet. Wenn sich niemand um ihn kümmern kann, wird Thomas kurzerhand in seinem Zimmer eingeschlossen. Bisher wurde alles daran gesetzt, den Halbwüchsigen im Haus zu verstecken und zu versorgen und nicht in eine neue Einrichtung zu schicken, wo er unter seinesgleichen wäre und entsprechend gefördert würde. Auf einem Dorf aber gibt es schnell Gerede, so grenzt sich die Familie aus Selbstschutz aus, nur Toni muss sich der Bosheiten der Schulkameraden erwehren. Man bedenke, dass es bis vor einigen Jahrzehnten Unterstützung für derartige Behinderungen noch überhaupt nicht gab auf dem Land.
Erzählt wird der Roman, der in den 90er-Jahren spielt, hauptsächlich aus der Sicht der sich aufopfernden Mutter, des verschlossenen zehnjährigen Bruders Toni und des bald abwesenden, bald anwesenden Vaters. Das ist formal schön gemacht: Die Perspektivwechsel sind rasch, direkte Reden gehen ohne Markierung im Textfluss auf. Die Sprechweisen zeigen das Hadern, die Überforderung mit der speziellen Familiensituation, sie bleiben stets schlicht, unverstellt, loten aber doch einen für die meisten Menschen fremden Kosmos auf nachdrückliche Weise aus. Tonis Monologe berühren besonders. Hellsichtiger als die anderen scheint er sich etwa Gedanken über Thomas‘ Fähigkeiten zu machen: „Man müsste ihm die Wörter richtig auf die Haut schreiben.“ Auf der anderen Seite erlebt er das „Fehlen“ eines großen Bruders, seine eigene Vernachlässigung durch die Eltern und die häuslichen Hilfsdienste in doppelter Schwere, da er unter dem rätselhaften Verschwinden seiner kleinen Freundin Lisi leidet. „Mit der Lisi wäre alles leichter.“
Carina Nekolny: Fingerspitzen. Edition Meerauge 2016. 253 Seiten.
Achtung: Die Fehler in diesem Text sind Absucht
Ein LitBit, dessen Titel einer Gebrauchsanweisung fürs Lesen entspricht.
(AM) Es liegt an uns, was wir sehen. Zufall oder Muster. Fehler oder Figuren. Kaum etwas ist so ürgerlich wie Drückfuhler, so erhellend, so meerdeutig oder vielschichtig. Fast müsste man sie erfinden. Oder ihnen wenigstens einmal eine Ausstellung widmen – wie jetzt im Marbacher Literaturarchiv geschehen. Das „Marbacher Magazin“ ist immer wieder überraschend, die Nummer 153 nun dem Thema gewidmet: „Errata. Fehler aus zweiter Hand.“ Hanns Zischler macht daraus „ein Gespräch in x Stichworten“.
E.T.A. Hoffmann sprach von „sogenannten“ Druckfehlern, für Karl Kraus waren sie die Wirklichkeit der Schrift. „Zusammenstehlung“ machte einmal einer seiner Setzer aus der „Zusammenstellung“ eines Buches. Vladimir Nabokov schrieb, um Druckfehler zu erfinden. Mir ist einmal aufgefallen, wie nahe doch Internet und Internat beieinanderliegen. Manches wird erst sinnvoll, wenn es jemand falsch schreibt. Andererseits kenne ich eine Dichterin, die Druckfehler in einem ihrer Gedichte wie eine schwere persönliche Beleidigung nimmt, eigentlich nur mit dem Tode zu sühnen, und sich Jahre darüber aufregen kann. Oft geht es um nahezu nichts, und oft steht alles auf dem Spiel. Der Errata-Zettel macht aus mancher Mücke einen Elephanten, sein Fehlen aus manchem Buch eine gemeine Schlamperei. Gottsucher oder Goldsucher, das ist die Frage. V.O. Stomps pflegte zu sagen: „Ein Buch ohne Druckfehler ist unanständig.“
Das Magazin hat jene Leichtigkeit, die man der Sache zumessen sollte, verzichtet auch auf ein Literaturverzeichnis. Dort müsste unbedingt vorkommen: „Vom Druckfehlerteufel und von der Hoffnung Jakob Hegners auf ein himmlisches Alphabet. Einige Brocken Verlegerlatein gesammelt von Peter Schifferli.“ Ein Buch aus dem Jahr 1984, in dem ich noch keinen Druckfühler entdeckt habe. Aber das kann noch kommen.
Hier ein Zitat daraus, der „Süddeutschen“ vom 12. Mai 1979 entnommen:
ADE, EWIGER GUTENBERG
Gutenberg
Gutenserg
Gutensarg
Gutensarz
Gutensatz
Putensatz
Puttnsatz
Puttosatz
Photosatz.
Marbacher Magazin 153: Hanns Zischler: Errata. Fehler aus zweiter Hand. Ein Gespäch in x Stichworten. 72 Seiten, mit Abb., broschiert, 10,00 Euro.
Der Teufel im Detail
(FS) „Unheilvolle Geschichten“ verspricht der Untertitel des neuen Erzählbandes der Schweizer Autorin Brigitte Schär. Fast 18 Jahre nach ihrem bei Hanser erschienenen Debüt „Liebesbriefe sind keine Rechnungen“ beweist sie ein weiteres Mal, dass sie auf der Klaviatur des Grotesken zu spielen weiß. Sie blickt tief in die Psyche ihrer Figuren und nimmt den Leser mit in deren Abgründe: Eine Frau stößt bei einem ausgedehnten winterlichen Waldspaziergang auf einen zugefrorenen See und entdeckt einen Mann unter der kalten Spiegelfläche. Um das Eis nicht mit Gewalt zu brechen, legt sie sich nackt und sehnsüchtig darauf. Eine andere Frau träumt davon, ein Kind im Keller zu finden – während die Grenzen zwischen Traum und Realität verwischen, offenbart sich das böse Geheimnis dieses Kellers.
Aber nicht nur Frauen stehen im Mittelpunkt der Geschichten: Da ist auch der Filialleiter, der sich in eine unwirsche Toilettenfrau verliebt, die er jedoch niemals wiedersehen soll – fünf Seiten voller verzweifelter Sehnsucht und Einsamkeit. Die Storys haben etwas im Wortsinn Trostloses. Brigitte Schär erzählt ruhig und unaufgeregt, nur selten zieht sie das Tempo an. Und gerade durch diese Abgeklärtheit vermögen die Geschichten zu verstören.
Brigitte Schär: Unwetter. Unheilvolle Geschichten. Knapp Verlag 2016. 170 Seiten. 23,80 Euro.