Geschrieben am 12. Januar 2011 von für Bücher, Litmag

LIDIA AMEJKO: DIE VORSTADTHEILIGEN

Profane Erleuchtungen am laufenden Band

– Am Ende seines Schöpfungsakts „spritzte der Herr das letzte bisschen Beton einfach auf ein abgelegenes Fleckchen Erde, als gerade keiner hinsah. So entstand unsere Siedlung“. So skurril der Anfang von Lidia Amejkos Debütroman „Die Vorstadtheiligen“ ist, so skurril und von überschäumender Fantasie ist auch sein Fortgang. Von Karsten Herrmann

Ort dieser respektlosen Schöpfungsgeschichte ist eine polnische Plattenbausiedlung, die vom Rest der Welt scheint vergessen zu sein und in ihrem ganz eigenen Kosmos schwebt: „An zwei Orten wurde der Andrang quasi immer größer: in der Kirche und vor Jericho, dem Schnapsladen. Aber viele fingen auch an, sich aufzuhängen.“

In der alkoholgeschwängerten Luft vor Jericho blühen die Legenden, und wider das Vergessen wird in diesem Roman jeder Bewohner mit seiner ganz eigenen gewürdigt und verewigt. Glitzernd und irrlichternd wie Perlen auf einer Kette reiht Lidia Amejko sie augenzwinkernd aneinander – „Vom Diener Gottes Fistula“ über „Sankt Schopenhauer, dem Märtyrer“ und „Sankt Heidegger, dem Wohltäter der unbehausten Wörter“ bis zu „Sankt Kunerta, der Totengräberin der Träume“ reichen die sprechenden Legendentitel.

Foto: © Danae Ribibitsch

Bildgewaltig und sinnlich lässt die gebürtige Breslauerin in diesem Reigen eine Welt der Wunder und des Wahnsinns auferstehen. Das abstrakte Wort, die Suche nach Sinn und Ewigkeit werden bei ihr zu einem synästhetischen Spektakel, einem äußerst einfallsreichen Leseschmaus voller Farbe, Geschmack und Form: „Das Nichts, Mann, ist an die Unendlichkeit festgebraten wie angebrannte Kartoffeln in der Pfanne.“

Lidia Amejkos Prosa ist von lutherischer Wucht und Heiligkeit, sie ist ebenso deftig und obszön wie sanft und anschmiegsam, sie ist lakonisch und zum Schreien komisch. Ihre Legenden der Vorstadtheiligen stecken voller exquisiter Metaphern und grotesker Pointen und lassen durch die Hintertür schelmisch Sinn und Wahrheit aufleuchten.

Karsten Herrmann

Lidia Amejko: Die Vorstadtheiligen (Zywoty swietych osiedlowych, 2007). Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann. Köln: Dumont Verlag 2010. 200 Seiten. 18,90 Euro. Ein Gespräch (auf Polnisch) finden Sie hier.