Lesters Tiraden
Er war der große Gonzo-Journalist, Gossenpoet und der romantische Visionär unter den Schreibern des Rock – Nun liegt eine Auswahl von Lester Bangs Greatest Hits endlich auch auf Deutsch vor. Von Matthias Penzel
Es wird der Tag kommen, an dem sie an einem College im Rahmen von Creative-Writing-Kursen auch Module für Rock&Roll-Journalismus anbieten. Und dann wird der Tag kommen, so ist zu erwarten, an dem irgendein Institut erweitert werden wird, und der Tag wird kommen, da benennen sie den Neubau eines dergestalt unsinnigen und widerwärtigen Getues um solch einen brotlosen und hoffnungslos romantischen Zeitvertreibs nach einem Schreiber, der Rock’n’Roll so lebte und atmete und furzte und der Rock’n’Roll-Writing so sehr belebte und darunter litt, der jeden Moment das Gegenteil von dem sagte, was er in der Nacht zuvor in einem Stream-of-Kerouac-Stil getippt hatte, für den das alles eine Schizophrenie in b-Dur war … wo warn wir? Ah ja, und dann wird der Tag kommen, an dem sie den Neubau, so eine Art West-Flügel, als den „Lester Bangs Wing“ einweihen.
In dem Song „Lester Sands“ greinten die Buzzcocks über ihn, The Ramones verewigten ihn in „It’s Not My Place“, Bob Seger in „Lester Knew“, R.E.M. in „It’s the End of the World as We Know It (And I Feel Fine“. In Bruce Sterlings Erzählung Dori Bangs treibt er sein Unwesen, in dem Film „Almost Famous“ spielt ihn Philip Seymour Hoffman, beim Bonus-Material der DVD kommt er selbst zu Wort. Weil Bangs sich und sein Leben dem Bastard Rock widmete, wütete er – genauso wie Rock – in allen möglichen Genres, wilderte er durch die unmöglichsten Gattungen für und wider Lou Reed, aber auch Miles Davis oder Coltrane, The Clash und PiL. Über Rod Stewarts Song „Maggie May“ riffte er eine Story (die ihrerseits Grundstein einer Anthologie mit adaptierten Songs wurde, feat. Jonathan Lethem, JT LeRoy u.a.). Kurz und knapp und in einem Satz: Wer von Rockjournalismus spricht, kommt an Lester Bangs nicht vorbei.
Lester Bangs (1948–1982) wurde an der Schreibmaschine aktiv, als alles Gute im Pop so gut wie unter der Erde war. Er schrieb über Iggy Pop und MC5, als Industrie und Zynismus das Ruder übernahmen, zankte und liebte Richard Hell, schockierte Kraftwerk, als er auf die Idee Burroughs’ (in einem Interview mit Bowie) zu sprechen kam, dass man mit Maschinenmusik Zuhörer vielleicht nicht nur bewegen und zum tanzen bringen könnte, sondern auch umbringen. Bangs war wie Rock. Voller Widerwärtigkeiten und aufgedrehter Verzerrungen, Feedback und Pfeifen, viel Lärm und Gedröhne um nichts … plus Zugabe. In den Worten seines Biografen Jim DeRogatis: Er war der große Gonzo-Journalist, Gossenpoet und der romantische Visionär unter den Schreibern des Rock – deren Hunter S. Thompson, Charles Bukowski und Jack Kerouac in einer dicken Wundertüte. Nicht im Einklang mit dem Peace & Love Ethos der Sechziger, auch nicht der Me Generation der Siebziger.
Wunderbar und wüst und wirr wie irr’
Punk war seine Zeit – die Bezeichnung geht vermutlich auf ihn zurück, ebenso wie die für „Heavy Metal“, die in einem fast taschenbuchdicken Essay über Black Sabbath, „die erste katholische Rockgruppe überhaupt“, auftaucht. Er war wie er schrieb, brutal und spontan, soft und lieb – ein echtes Rock’n’Roll-Urviech. Nach seinem Tod (zu viel Valium und codein-haltige Substanzen) trug Greil Marcus ein Bangs-Lesebuch zusammen, Psychotic Reactions and Carburetor Dung. Den Titel hatte Bangs schon Jahre zuvor ersonnen, als er für Rowohlts Rock Session-Reihe regelmäßig Artikel nach Deutschland schickte. Und nun, mehr als zwanzig Jahre nach dem posthumen Release, liegt eine Auswahl von Lesters Greatest Hits endlich auch auf Deutsch vor. Wunderbar und wüst und wirr wie irr’ … Grund zum Feiern.
Da keine Feier so richtig rockt und grollt, wenn keiner wenigstens mit ein bisschen Gemecker für Dissonanzen sorgt, sei kurz angemerkt, dass die Auswahlkriterien von Greil Marcus (Gelegenheitsdozent in Harvard) nicht nur von engeren Vertrauten Bangs’ (beispielsweise von Noise Boys wie Nick Tosches und Richard Meltzer) kritisiert wurden. Aber Psychotische Reaktionen und heiße Luft ist ein Anfang, und zwar ein ziemlich guter, vor allem auch beeindruckend übersetzt.
Bangs kannte und litt unter Scheckbuchjournalismus, er wusste um Kritiker-Korruption durch Freundschaft und Treue, doch er schrieb schnell und hart und kompromisslos. So wie ein Fan, der einem noch Morgengrauen mit den Jungs zwischen leeren und vollen Flaschen über Sinn und Unsinn der Welt im Kleinen und Klängen im Großen doziert. Lauter laute Zeilen aus der Nacht, Sprüche für den Tag, kurz darauf im Altpapier. Wenn er zu Lebzeiten auch wenige Bücher geschrieben hat, v.a. keine sonderlich guten, dafür umso mehr geplant und geplappert hat, so gehören Psychotische Reaktionen …, aber auch Main Lines, Blood Feasts, and Bad Taste trotzdem in das Regal jedes einigermaßen seriösen Rock-Kritikers … und eines Tages auch in die Bibliothek des Lester Bangs Wings der University of San Diego.
Matthias Penzel
Lester Bangs: Psychotische Reaktionen und heiße Luft. Rock’n’Roll als Literatur und Literatur als Rock’n’Roll. Greatest Hits. Deutsch von Astrid Tillmann, Peer Schmitt, Teja Schwaner u.a. Edition Tiamant 2008. 400 Seiten. 19.80 Euro. ISBN-10: 3893201270
Von Lester Bangs sind erschienen:
Blondie, 1979. ISBN-10: 0860017117
Rod Stewart, 1982. ISBN-10: 0283988363
Psychotic Reactions and Carburetor Dung: The Work of a Legendary Critic. Rock’n’Roll as Literature and Literature as Rock’n’Roll, 1987. ISBN-10: 0434044563
Elvis Presley: The Rebell Years, 1997. ISBN: 0393316254
Main Lines, Blood Feasts, and Bad Taste: A Lester Bangs Reader, 2003. ISBN-10: 0375713670
Jim Derogatis: Let it Blurt: The Life and Times of Lester Bangs, America’s Greatest Rock Critic, 2000. ISBN-10: 0767905091