Auf der Fährte der Freiheit
– Nach seinem historischen Roman über Leo Trotzki hat sich Leonardo Padura wieder mit Geschichte beschäftigt. In „Ketzer“ steht die jüdische Geschichte im Mittelpunkt. Allerdings darf auch ermittelt werden und Paduras alternder Detektiv Mario Conde fördert Überraschendes zu Tage. Knut Henkel hat sich in Havanna mit Leonardo Padura darüber unterhalten.
Das zweistöckige Haus in Havannas Arbeiterviertel Mantilla ist etwas zurückgesetzt, so dass der Lärm von der Straße nicht gleich ins Arbeitszimmer von Leonardo Padura dringt. Dessen Wände sind von hohen Regalen gesäumt, die mit Büchern und kleinen Erinnerungen vollgestopft sind. Kleine Masken, Fotos, hier und da eine CD. Ein, nein zwei Wände hat der 58-jährige Schriftsteller freigelassen, um ein paar Urkunden, Auszeichnungen und Preise aufzuhängen. Den Preis der kubanischen Literaturkritik von 2002 beispielsweise, den Raymond Chandler Preis oder den nationalen Literaturpreis von 2012.

© Knut Henkel
Umgeben von Büchern und Erinnerungen steht der Schreibtisch Paduras mit dem Flachbildschirm und der Internetleitung, die ihm das Privileg des Internet-Surfens in den eigenen vier Wänden erlaubt, relativ mittig an der Längswand des Büros. Eine feste Internetleitung ist alles andere als normal in Kuba, wo der Zugang zum World Wide Web kostspielig, reglementiert und langsam ist. Für Leonardo Padura ein Unding. „Dadurch droht Kuba den technologischen Anschluss zu verlieren“, ärgert er sich und wartet bis sich die Seite auf dem Bildschirm aufbaut. Zu langsam ist dem Mann mit dem dichten, zunehmend weißer werdenden Vollbart die Leitung, aber darüber hat er sich schon oft geärgert, wenn er in den letzten Jahren im Netz recherchiert hat, um neue historische Details über Rembrandt Harmenszoon van Rijn, den berühmten holländischen Maler, und seine Schüler zu Tage zu fördern. Warum? Weil die und das Amsterdam um 1650 eine wichtige Rolle in seinem neuen Roman „Ketzer“ spielen, der gerade erschienen ist.
Eine Reise von der alten in die neue Welt …

Rembrandt van Rijn Selbstporträt als Apostel Paulus, um 1661, Rijksmuseum in Amsterdam
Auf die Idee zu „Ketzer“ kam Padura vor mehr als zehn Jahren. „Damals habe ich einen Roman über eine Gruppe von Personen zu Beginn der kubanischen Revolution geschrieben und eine dieser Personen war Jude und da kam mir die Idee einmal über die jüdische Geschichte auf der Insel zu schreiben“. Gleichwohl hat es ein bisschen gedauert bis Padura klar war, wie es funktionieren könnte. Das war vor gut vier Jahren. „Eines dieser Emo-Mädchen hat mich dazu inspiriert über die kubanische Jugendkultur und das Streben nach persönlicher Freiheit zu recherchieren“. Das passt ganz gut zur jüdischen Geschichte auf der Insel, denn schließlich kamen die Juden aus Europa nach Kuba, um hier in Freiheit zu leben. So gewann die Idee zu „Ketzer“ 2009 und 2010 an Kontur. Also ging Leonardo Padura auf Recherche und holte den alten hellgrünen Plymouth des Vaters aus der Garage, um ins zwanzig Minuten entfernte Zentrum von Havanna zu fahren.
Das hat Padura öfter gemacht, denn seine Bücher basieren auf solider Recherche und so hat sich der ehemalige Journalist der „Juventud Rebelde“, der Zeitung der kommunistischen Jugendbewegung, daran gemacht das jüdische Leben in Havanna unter die Lupe zu nehmen. Geholfen haben dabei Verwandte, die damals und auch noch heute in den Gassen der Altstadt leben, sich an die Bäckerei „Flor de Berlin“ oder an das legendäre koschere Restaurant „Moishe Pipik“ erinnern und manche Anekdote parat hatten. Auch ein US-amerikanischer Jude aus Mimai hat geholfen. Bei seinen Visiten in Havanna ist er mit Padura durch die verfallende Altstadt rund um die Calle Compostela spaziert – dort wo David Kaminsky und sein Onkel Joseph alias „Pepe Cartera“ im „Ketzer“ 14 Jahre lebten. Nur ein paar Steinwürfen von der Adath Israel, der Synagoge der orthodoxen Gemeinde Havannas an der Ecke der Calle Acosta, sind auch heute noch jüdische Spuren zu sehen. Padura interessierte sich jedoch dafür wie das Viertel Ende der 1930er Jahre aussah, denn da spielt ein beachtlicher Teil von „Ketzer“.

Synagoge Beth Shalom, Havanna, © Knut Henkel
Onkel Joseph war der Erste aus der Kaminsky Familie, der in den 1930er Jahren seine Sachen packte und aus dem polnischen Krakau nach Havanna zog, weil die Angst vor den Faschisten in Europa umging. Ihm folgte der älteste Sohn seines Bruders, Daniel, der ein paar Monate vor den Eltern und Schwester Judith in Havanna ankam. Der Rest der Familie sollte Frühjahr 1939 mit der St. Louis folgen. Alles lief nach Plan. Die Tickets waren bezahlt, die Visa beschafft und am 27. Mai lief die St. Louis mit 927 jüdischen Flüchtlingen im Hafen von Havanna ein. Onkel Joseph und Daniel standen erwartungsvoll am Kai. Doch dann erklärten die Offiziellen, dass die Visa ungültig seien – ein korrupter Beamte hatte sie ausgestellt und seine Vorgesetzen nicht geschmiert. So lichtete die St. Louis nach vier Tagen erfolgloser Verhandlungen die Anker und das Gros der Flüchtlinge fiel wenige Monate später den Nazis in die Hände und landete in den Vernichtungslagern – auch die Eltern von Daniel und seine Schwester Judith.
Das Familienerbstück – der echte Rembrandt
Auf der Insel blieb jedoch das Familiengemälde, ein von Rembrandt signiertes Christusporträt. Das hatten die Kaminskys zwar einem der korrupten Beamten der Einwanderungsbehörde angeboten, doch der hatte die Gegenleistung in Form von Einreisevisa nicht ausgestellt. Davon ahnten Daniel und Joseph Kaminsky aber nichts – bis Daniel 1958 einem Freund aus der Patsche helfen musste. Dessen Name stand auf der schwarzen Liste der Häscher von Diktator Fulgencio Batista, weil er Angehöriger der Revolutionäre um Fidel Castro galt. Nun mussten falsche Papiere her und die sollte Román Mejía, ein Beamter der Migrationsbehörde, besorgen. In dessen Wohnzimmer prangte jedoch der Rembrandt an der Wand und Daniel staunte Bauklötze und schnell wurde ihm klar, wen er vor sich hatte.

Sephardische Synagoge in Vedado © Knut Henkel
Ein paar Tage später verließ Daniel Kaminsky die Insel und die Leiche von Román Mejía wurde gefunden. Für seinen Sohn Elias Kaminsky fünfzig Jahre später Grund genug nach Havanna zu fahren, um Mario Conde zu beauftragen den Mord aufzuklären. Warum? Weil der Sohn Klarheit will und weil der Rembrandt wieder aufgetaucht ist und von einem Aktionshaus angeboten wird. Also macht sich Mario Conde, Paduras mittlerweile 54-jähriger Ermittler, auf die Suche, obwohl er längst aus dem Polizeidienst ausgeschieden ist und mehr schlecht als recht vom Verkauf antiquarischer Bücher lebt. Conde taucht ab in das Havanna des 21. Jahrhunderts, wo die Korruption sich zunehmend ausbreitet und wo der Handel mit Kunst nicht unüblich ist. Dabei trifft Paduras melancholischer Ermittler aber auch auf eine Jugendkultur, die von der „Scheißwelt nichts mehr wissen will“. Gesellschaftliche Realitäten, die Padura in gewohnter Manier beschreibt, und die seinen Ermittler vor knifflige Aufgaben stellen. Zu dem Mord am Román Mejía gesellt sich alsbald eine weitere Tote. Ein junges Emo-Mädchen, das tot in einem Brunnen aufgefunden wird, und so hat Mario Conde alle Hände voll zu tun.
Um die beiden Toten und den alten Rembrandt hat Leonardo einen Roman mit drei Strängen geschrieben, der sowohl in der alten als auch der neuen Welt spielt, um seinem zentralen Thema gerecht zu werden: „Mir ging es um ein universelles Thema: der Suche nach Freiheit. Der persönlichen Freiheit entscheiden zu können wie man lebt, wo man lebt und was man macht“. Das verbindet das junge Emo-Mädchen mit der jüdischen Diaspora. Ein Thema mit Sprengkraft – nicht nur im Havanna des 21. Jahrhunderts.
Knut Henkel
Leonardo Padura: Ketzer (Herejes, 2013). Roman. Deutsch von Hans-Joachim Hartstein. Zürich: Unionsverlag 2014. 650 Seiten. 24,95 Euro. Verlagsinformationen zu Buch und Autor. Mehr zu Leonardo Padura bei uns gibt es hier, hier, hier und hier.