Geschrieben am 27. August 2011 von für Bücher, Crimemag

Leo Rosenthal. Ein Chronist in der Weimarer Republik. Fotografien 1926–1933

Täter, Zeugen, Anwälte

– Wie wir Verbrecher und Verbrechen sehen und wahrnehmen ist nicht so unmittelbar, wie wir gerne glauben. Bilder spielen eine große Rolle. Ihre Lieferanten sind nicht immer sehr bekannt, aber eminent wichtig sind sie doch. Thomas Wörtche stellt einen schönen Bildband über Leo Rosenthal vor:

Warum soll man schlechte historische Kriminalromane lesen, wenn man viel spannendere Bilder anschauen kann? Es ist bezeichnend für einen „Chronisten“ der Weimarer Republik wie den aus reiner Not zum Fotografieren gekommenen Juristen Leo Rosenthal (1884–1969) aus Riga, dass dessen wichtigstes Zeitzeugentum in Gerichtsreportagen besteht, beziehungsweise in Foto-Gerichtsreportagen oder Fotos zu Gerichtsreportagen. Goldene Zeiten für dieses Genre mit den berühmten Texten von Gabriele Tergit, Sling oder Inquit waren die Jahre der Weimarer Republik sowieso.

Dabei gerieten Rosenthal neben müden Huren, deklassierten Menschen und Verbrechern aller Art auch allerlei celebrities der Zeit vor die Linse. Vor Gericht treffen wir Adolf Hitler und Erich Mühsam, wir sehen Hilde Benjamin im Horst-Wessel-Prozess, Robert Musil, Joseph Goebbels, die Gebrüder Sass, Tilla Durieux, Magnus Hirschfeld und viele andere mehr. Darunter auch viele Anwälte in Posen, die wir bei John Grisham und Co. wiederfinden.

Entstanden sind so Porträts und Zufallstableaus, die nicht arrangiert sind, weil Rosenthal teilweise mit verdeckter Kamera arbeiten musste, was angesichts der Größe der damaligen Apparate gar nicht so einfach war.

Der Physiker Albert Einstein als prominenter Zeuge vor Gericht, um 1931

Rosenthal, Selbstporträt, um 1932 (LAB F Rep. 290-02-06)

Von Berlin nach New York

„Das Verbrechen“ und „Recht und Ordnung“ der 1920er- und 1930er-Jahre (1933 musste Rosenthal aus Berlin fliehen, später arbeitete er als Fotograf u. a. für die UNO in New York) erscheinen in den hier versammelten Bildern sehr unstilisiert, unsymbolhaft, unarrangiert – und deswegen sind sie so wertvoll … „Der Führer“ ohne gewollte Pose, dennoch posierend, die Integration der Individuen in völlig andere Kontexte (Musil im Gerichtssaal! – all das macht den hohen Reiz der Fotos aus. Ein weiterer, kleinerer Teil des wie immer brillant gemachten Schirmer/Mosel-Bandes zeigt Rosenthals Arbeiten als Fotograf des Berlins der Kleinen Leute. Auch da ist sein Auge für die absichtslos sich herstellenden Arrangements der Wirklichkeit frappierend. Ob Lastenträger im Park beim Frühstück, eine Gruppe sehr bürgerlich-adrett aufgemachter Damen beim Anschaffen, ein blinder Bettler mit liebevoll in eine Decke gehülltem Hund (direkt aus dem Beschreibungsinventar eines Erich Kästner), Mauerschmierereien („Wählt Hitler! Juda den Tot!“) und Entlausungsrituale in Obdachenlosenanstalten – die Realität erzählt bei Rosenthal Geschichten, ohne dass er sie unter Zuhilfenahme von originellen Vorkehrungen, artifiziellen Perspektiven oder anderen Kunstmitteln dazu zwingen müsste.

„Die Straßenmädchen wegen Raubes angeklagt“

Wie sehen wir was?

Kluge Aufsätze runden den klugen Band ab. Besonders wichtig ein längerer Text von Bernd Weise über die Entwicklung des fotografischen Umgangs mit „Verbrechern“ und „Kriminalität“ – „vom Verbrecherfoto bis zum Sensationsbildbericht“ (wie der Aufsatz untertitelt ist) belegt wieder einmal, wie vielfach vermittelt, kontextuell gebunden, geistes- und sozialgeschichtlich variabel der Umgang mit „Verbrechen“ und „Kriminalität“ en general ist. Und wie planetenfern entfernt von dämlichen historischen Grimmis, die zur Zeit grassieren.

Thomas Wörtche

Leo Rosenthal. Ein Chronist in der Weimarer Republik. Fotografien 1926–1933. Hg. vom Landesarchiv Berlin und der Rechtsanwaltskammer Berlin. Mit Texten von Bianca Welzing-Bräutigam, Janos Frecot und Bernd Weise. München: Schirmer/Mosel 2011. 160 Seiten. 99 Tafeln in Duotone. 24 Abb. 29,80 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. TW über „Gabriele Tergit: Wer schießt aus Liebe? Gerichtsreportagen.“ bei kaliber.38

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