Geschrieben am 13. Dezember 2006 von für Bücher, Litmag

Le monde diplomatique/ taz: Atlas der Globalisierung

Globalisierungskataster – Der ‚Atlas der Globalisierung’

Neu ist das alles nicht. Schon 1809 leitete Johann Peter Hebel in seinem „Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes“ eine Abhandlung über die Folgen des Tilsiter Friedens‚ mit einer Bemerkung ein, die nichts an Aktualität verloren hat. „In der Welt sieht es kurios aus.

Gestern so, heute anders, und wer weiß was morgen kommt….Wohl dem, der von weitem zuschauen kann, wie es manchmal drunter und drüber geht, und muß nicht dabei sein, wenn die langen Messer dreinhauen.“ Wohl dem,der heute, gut zwei Jahrhunderte später von weitem zuschauen kann, wo überall in der Welt Messer dreinhauen, Millionen von Menschen unentwegt auf der Flucht sind, Sturzfluten riesige Landstriche zerstören, inMega-Metropolen die Gewaltkriminalität unkontrollierbar wird, der Hunger nach Grundnahrungsmitteln nicht mehr gestillt werden kann, Journalisten bei der Ausübung ihres Jobs ermordet werden. Aber kann man heute überhaupt noch wie zu Zeiten des Rheinischen Hausfreundes aus der Ferne unbeteiligt den ‚Weltbegebenheiten’ (Hebel) unberührt zuschauen? Gibt es heute noch einen Flecken auf der Welt, der nicht im Netz der Globalisierung gefangen ist? Wer heute an den Stammtischen irgendeines niederbayerischen oder mecklenburg-vorpommerschen Dorfes gegen die Ausländer im Allgemeinen und im Besonderen in der Nachbarschaft vom Leder zieht, sollte sich nur einmal umschauen. Vielleicht kommt die Bedienung aus dem ehemaligen Jugoslawien. Teile des Wirtshausmobiliars wurden irgendwo in China zusammengeschraubt. Den Küchenabfall entsorgen Flüchtlinge aus Zentralafrika. In „deutschen Händen“ ist vielleicht nur – noch – die Brauerei des Weißbieres. Mögen die Sprüche am Stammtisch noch so patriotisch, nationalistisch, zunehmend auch rassistisch sein – Antworten auf die Realität im und außerhalb des Wirtshauses können sie schon seit langem nicht mehr bieten. Was aber fehlt, nicht nur am Stammtisch, ist ein Wissen um die Weltzusammenhänge. Die sind nun mal kompliziert und alles hängt irgendwie auch mit allem zusammen.

„Heute ist es“, so schreibt der indische Autor Suketu Mehta im „Atlas der Globalisierung“ „für London genauso wichtig, Bombay zu verstehen, wie es für Bombay wichtig ist, London zu verstehen.“ Und in Passau sollte man wissen, daß vielleicht das Abschmelzen der Polkappen auch verantwortlich ist für die dramatischer gewordenen Überflutungen des Inn.

Auf gut zweihundert, mit unendlich vielem Kartenmaterial angereicherten Seiten präsentieren Mitarbeiter der in Deutschland im Haus der berliner ‚TAZ’ herausgegebenen Monatszeitschrift ‚Le monde diplomatique’ und Globalisierungsexperten aus der ganzen Welt, auf was man sich in den kommenden Jahrzehnten von Peking bis Pirmasens, von Haiti bis Halle an der Saale einstellen sollte. Schreckensszenarien nicht nur aufgrund der viel diskutierten Klimaveränderung sind realistisch. Anzeichen immer größer werdender Elendsmigrationen aus den armen Staaten z.B. Zentralafrikas oder einiger Zonen der Karibik sind heute schon sichtbar etwa an den Küsten Spaniens oder Italiens. Welche Auswirkungen haben die gigantischen Umweltzerstörungen im chinesischen Wild-West-Kapitalismus für die Bewohner des Riesenlandes, aber auch für den Rest der Welt? Wie wird sich die immer weiter öffnende Schere zwischen extremen Luxus und bitterster Armut auch in Europa auf das zivile Zusammenleben in den immer größer werdenden Stadtregionen auswirken? Was hat die extreme politische Instablität in Zentralafrika zu tun mit dem zugenommenen Rassismus in Pariser Vorortgemeinden? Wie werden sich badischen Weinorte unter dem Druck weltweiter Agrokonzerne verändern?

Antworten gibt auch der ‚Globalisierungsatlas’ von ‚le monde diplomatique’ keine, aber hier werden die richtigen Fragen gestellt. Nach der Lektüre der 190 Seiten gibt es viele Gründe, sich untätig hinter einer hohen Mauer der Resignation und des Pessimismus zu verbarrikadieren. Man wird sich auf weitere schwere Zerstörungen nicht nur der Ökosysteme, sondern auch bislang als friedlich geltender Formen gesellschaftlichen Zusammenliebens einstellen müssen. „Aber“, schreibt Susan George, eine der Herausgeberinnen dieses wichtigen Globalisierungskatasters „wenn wir die hier aufgeführten Daten genauer betrachten, können wir auch entdecken, das Geld und Macht nicht immer das letzte Wort behalten“. Gerne hätte man aber in diesem Atlas genau zu dieser Hoffnung auch etwas von ‚Visionen’ und bereits bestehenden Formen einer alternativen „Civil Globalisation“ gelesen. Man wird so also gezwungen, seine eigenen Schlußfolgerungen aus den präsentierten Daten und Einschätzungen zu ziehen.

Die von diesem „Atlas der Globalisierung“ ausgehenden Provokationen lassen es jedenfalls nicht mehr zu, dass man noch wie zu Zeiten eines Johann Peter Hebel den ‚Weltbegebenheiten’ unberührt zuschaut.

Carl Wilhelm Macke

Le monde diplomatique/ taz: „Atlas der Globalisierung“
Berlin, 2006, 198 S., Kartoniert, Neuaufl., 198 S. m. 200 Ktn.-Skizzen u. Abb., ISBN 3-937683-07-0, 12 Euro