Geschrieben am 11. November 2010 von für Bücher, Crimemag

Laura Thompson: Agatha Christie

Wie man eine Biografie versaut

Die Biografin Laura Thompson nimmt sich Agatha Christie vor. Herausgekommen ist eine Mischung aus „Fleißarbeit“ und „Thema verfehlt“.  Von Henrike Heiland

Kein Autor außer Shakespeare hat so viele Bücher verkauft wie sie, nur wenige sonst stehen mit ihrem Namen so prägnant (und penetrant) als Synonym für den Detektivroman, zwei ihrer Detektive sind ebenso weltberühmt geworden wie ihre Erfinderin und und und. Man kann über Agatha Christie denken, was man will. Man kann geteilter Meinung über ihre schriftstellerischen Qualitäten sein, sie und ihre Werke umarmen oder ablehnen. Man kann sich über sie ärgern oder sie herausragend finden. So oder so: Über diese Frau darf man eine ordentliche Biografie erwarten. Das Buch von Laura Thompson hat sie nicht verdient.

Aber zunächst einmal wollen wir das Gute nicht verschweigen: Laura Thompson war sehr, sehr fleißig. Sie hat viel von und über Agatha Christie gelesen und viel recherchiert. Bestimmt hat sie schon in der Schule Fleißkärtchen gesammelt wie andere Kinder Fußballbildchen oder Blütenblätter. Das war’s dann aber auch schon mit den Pluspunkten. Kommen wir also zu den weniger schönen Aspekten dieser Agatha Christie-Biografie, thematisch abgehakt:

– Der Inhalt. Die Auswahl ist in weiten Strecken ermüdend bis irrelevant. Ist ja schön, dass Ms. Thompson so viel weiß, aber noch schöner wäre es gewesen, wenn sie hier und da mal an ihr Publikum gedacht hätte. So viel Familien- und Vorgeschichte zum besseren Verständnis des Menschen und Mythos Agatha Christie braucht es nicht.

– Die Fakten. Thompson schafft mal eben Fakten. Sie lästert einerseits über andere Christie-Biografen, weil diese Dinge behaupten, die sich gar nicht belegen ließen, schreibt aber selbst zum Beispiel das gesamte Kapitel über Christies Verschwinden in den 20er Jahren, als verfasse sie gerade einen Roman. Zwar hangelt sie sich an ein paar belegbaren Eckpfeilern entlang, der allergrößte Teil aber – inklusive Gedankengänge und Gefühlslagen der vorkommenden Menschen – ist reine Erfindung. Sie erzählt, wie Christie ihre Zeit im Hotel in Harrogate verbringt, wie sie singt und tanzt und allein auf ihrem Hotelzimmer sitzt und auf Nachricht ihres Mannes Archie wartet, die nicht kommt. Manches mag durch Zeugenaussagen belegt sein, genau lässt es sich aber nicht sagen, denn Thompson ist mit ihren Quellenbelegen und Fußnoten gerade in diesem Kapitel sehr zurückhaltend. Das meiste, was sie erdichtet, kann kein Mensch wissen, abgesehen von Christie selbst, und die behauptete ja standhaft, sie hätte keinerlei Erinnerung an die Zeit ihres Verschwindens. Thompson „löst“ also das „englische Mysterium“ („An English Mystery“ ist der Originaltitel der Biografie), tut dies sogar auf psychologisch durchaus nachvollziehbare Weise, lässt aber den geneigten Leser vollkommen im Dunkeln darüber, woher sie so viel Einsicht und Weisheit nimmt.

– Die Bewertung des Werks. Laut Thompson war Christies Werk das eines Genies. Das Geniale lag selbstverständlich in der Einfachheit, die nur eine vermeintliche war. Immer wieder ist die Rede davon, wie wichtig Christie die Charaktere waren und was für ein Talent sie für Dialoge hatte. Jeder, der es wagte, Christie zu kritisieren, ist in Thompsons Augen – so der Eindruck – irgendwas zwischen Grabschänder und Attentäter. Dass die Dialoge rein funktional sind, dass die Figuren sich ständig wiederholen und ungefähr die Tiefe einer Bierpfütze auf einer Theke haben, weist Thompson zurück. Sie hebt das Objekt ihrer Untersuchung so hoch in den Himmel, dass es wahrscheinlich sogar Christie selbst auf diesem Sockel schwindlig werden würde. So viel Freudentaumel wäre selbst in einer Laudatio auf einen mehrfachen Literaturnobelpreisträger unangemessen bis peinlich.

– Die Bewertung der Person. Das ist nun wirklich das Allertraurigste an der ganzen Biografie. Thompsons Bild von Agatha Christie will das einer genialen, tiefsinnigen, hochintelligenten und leider von der Kritik skandalös unterschätzten Meistererzählerin sein. Die Modernität von Christies Lebensstil wird behauptet, gezeigt aber wird eine Frau, die von der Zuneigung ihres jeweiligen Ehemanns so abhängig ist, dass sie bereit ist, sogar ihre eigene Tochter zu vernachlässigen. Es bleibt der Eindruck einer verzweifelten, frustrierten, bindungsgestörten Frau, die vor allem aus finanzieller Notwendigkeit geschrieben hat. Dass Christie dem Feminismus nicht gerade wohlwollend gegenüberstand, ist Thompson offenbar ganz recht, Äußerungen darüber, wo eine Frau ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen hat, lesen sich so, dass man kaum noch weiß, ob sie von Christie stammen oder vielleicht doch von Thompson.

Lassen wir den Text selbst sprechen. Es geht darum, dass sich Thompson gegen die Theorien verwehrt, Christies Verschwinden im Jahr 1926 sei von der Queen of Crime selbst geplant gewesen, sie hätte ihren Wagen absichtlich an einem Abhang stehen lassen und wäre zu Fuß in der Nacht zum einige Meilen entfernten Bahnhof gegangen:

„Es gibt noch mehr Gegenargumente, die den Vorwurf, Agatha habe alles geplant, völlig bedeutungslos machen. Newlands Corner ist in einer Dezembernacht ein furchteinflößender Ort. Dort allein zu sein, in der Stille, unter dem schwarzen Winterhimmel in der endlosen Weite, erfordert Mut. Keine Frau mit einer so lebhaftern [sic] Phantasie würde das aus Rachsucht, Bösartigkeit oder anderen kleinlichen Motiven tun: Der Ort an sich macht diese Vorstellung zunichte.“

Und hier wurde bei der Textredaktion sogar noch etwas beschönigt, denn Thompson spricht im Original gleich für alle Frauen:

„No woman, especially a woman of imagination, could do such a thing   …”

Wenn das die Art ist, wie Thompson für das Buch recherchiert hat, was soll man davon ernst nehmen können?

– Die Quellen, wo wir schon dabei sind. Abgesehen davon, dass viele Fußnoten, nun ja, nicht sehr erhellend sind: Thompson nimmt am allerliebsten Christies Werk als Beleg dafür, wie die Autorin in bestimmten Lebenslagen gedacht und sich gefühlt haben muss, was sie in Wirklichkeit wie gemeint hat und so fort. Besonders gerne zitiert sie aus den Romanen, die Christie unter dem Pseudonym Mary Westmacott geschrieben hat. Das Verhältnis zu ihrer Tochter, ihren Eltern und ihren Ehemännern – steht doch alles in den Romanen! Klar, fiktionale Unterhaltungsliteratur ist ja auch immer autobiografisch! Liebe Frau Thompson, also jetzt mal wirklich…

– Der Stil. Für ihre inflationäre Verwendung von Adjektiven würden nicht einmal Grundschullehrerinnen gute Noten verteilen. Die Autorinnen und Autoren von Arztromanen sind vergleichsweise viel zu gute Handwerker, als dass man Thompson mit ihnen in einem Satz nennen dürfte, aber rein vom Tonfall her könnte man gewisse Parallelen ziehen. Da das Original vorliegt, ist eins mal sicher: Die Sprache darf man keinesfalls der Übersetzerin Tatjana Kruse anhängen. Die hat nämlich ihr Bestes gegeben und noch versucht, einiges zu retten. Dafür muss man ihr dankbar sein. Neben dem Schmonzettenstil rückt sich die Biografin außerdem gerne emotional ganz in Christies Nähe, indem sie sie ungebrochen „Agatha“ nennt, was in Ordnung wäre, wenn sie nicht über sie so anbiedernd schreiben würde wie über ihre beste Freundin. Ein Lesevergnügen ist das nicht.

Ach, was hätte man alles rausholen können aus diesem langen, erfolgreichen Leben. Was hätte man alles schreiben können über diese Frau, die Tag und Nacht am Geschichtenerfinden war, um Geld zu verdienen, die um angemessene Honorare kämpfte, die ständig auf Reisen war, die sich nicht einmal von ihrem zweiten – übrigens fünfzehn Jahre jüngeren – Ehemann beirren ließ, der ihr immer mal wieder mehr oder weniger dezent zu verstehen gab, er sei der Meinung, Dorothy L. Sayers wäre ihr stilistisch weit überlegen. Aber manche Chancen verpuffen eben ungenutzt. Was bleibt, ist ein langatmiger Groschenroman mit inkonsistenten Charakteren, eine in weiten Teilen unsympathischen Hauptfigur, überkommenen Wertvorstellungen und vielen, vielen Behauptungen.

Henrike Heiland

Laura Thompson: Agatha Christie. Das faszinierende Leben der großen Kriminalschriftstellerin. (Agatha Christie – An English Mystery, 2007). Biografie. Deutsch von Tatjana Kruse. Frankfurt am Main: Scherz, 2010. 527 S. 24,95´Euro.

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