Geschrieben am 28. Februar 2009 von für Bücher, Crimemag

La bibliothèque des littératures policières (BILIPO)

Zu Besuch in der BILIPO

Tu felix Francia – wie schön, wenn es in Deutschland, Österreich, der Schweiz oder Luxemburg auch so etwas gäbe. Tut es aber nicht, und das hat auch mit dem Status der Kriminalliteratur bei uns zu tun. Der Status des Genres in Frankreich ist ein anderer. Eine erstaunliche französische Bibliothek, porträtiert von Kerstin Schoof.

Die Bibliothèque des Littératures Policières (BILIPO) ist eine kleine Bibliothek in einem Betongebäude, versteckt hinter einer Feuerwehrstation im 5. Arrondissement von Paris, dem Quartier Latin. Nichts deutet darauf hin, dass die BILIPO weltweit die einzige ihrer Art ist: eine Bibliothek, ganz allein dem Kriminalroman gewidmet – und der Sekundärliteratur, die zum Genre und seinen Autoren, aber auch zum Kriminalfilm und –Comic existiert, wissenschaftliche Arbeiten eingeschlossen. Ebenso sammelt die BILIPO Werke zur Geschichte von Polizei und Justizwesen, zu berühmten Kriminalfällen oder Politskandalen und natürlich zu Verbrechen aller Art: Mord, Raub, Entführung, Terrorismus.

Foyer, Auskunft und Lesesaal der BILIPO

Eine Besonderheit stellt ihr umfangreiches Pressearchiv dar, für das die führenden Tageszeitungen und Magazine auf der Suche nach Rezensionen und Autorenporträts ausgewertet werden. Zudem gibt es auch hier eine ausführliche Sammlung von Artikeln zu Entwicklungen in der Strafverfolgung und -gesetzgebung, zur inneren Sicherheit und von faits divers, Presseberichten über konkrete Verbrechen. „Nicht selten kommen Fernsehjournalisten hierher, um alte Artikel für einen Dokumentarfilm über einen historischen Kriminalfall zu filmen“, erklärt Alain Regnault, Verantwortlicher für das Pressearchiv.

Foyer, Auskunft und Lesesaal der BILIPO

Jeder, der zum Kriminalroman forscht oder sich für die im Krimi verarbeitete Realität des Verbrechens und der Verbrechensbekämpfung interessiert, findet hier eine unschätzbare Fundgrube an Material. Aufgrund ihres Abkommens mit der Bibliothèque Nationale de France, das ihr ein kostenloses Pflichtexemplar jedes in Frankreich erscheinenden Kriminalromans garantiert, verfügt die BILIPO über die komplette französische Krimiproduktion seit 1927. Dem Platzmangel der BNF bzw. einer ihrer Teilbibliotheken, der Bibliothèque de l’Arsenal, die bis 1996 die nationale Krimisammlung aufbewahrte, verdankt die BILIPO auch ihre Entstehung: Deren Suche nach einer Bibliothek, die diese Krimibestände übernehmen könnte, fiel in einen Zeitraum wachsender Unzufriedenheit mit dem Angebot an Kriminalliteratur innerhalb der universitären und öffentlichen Bibliotheken der Stadt Paris in den 1970er Jahren. Die BILIPO wurde daher zunächst 1984 als Sammlungsschwerpunkt innerhalb der Bibliothek Mouffetard-Contrescarpe gegründet und konnte schließlich im Jahr 1995 ihre eigenen Räume in der Rue du Cardinal Lemoine beziehen.

Begegnung mit dem amerikanischen Autor Stuart Kaminsky

Heute arbeiten hier sieben Bibliothekare in Vollzeit, und neben ihren eindrucksvollen Beständen ist es das Personal, was die BILIPO einmalig macht. Anfragen werden auch telefonisch oder per Email beantwortet. Insbesondere gegenüber Nutzern, die aus dem Ausland anreisen, um innerhalb weniger Tage Material für ihre wissenschaftlichen oder journalistischen Arbeiten zu sichten, reagiert die Bibliothek mit einem Maximum an Flexibilität. Im Glücksfall kann es sogar passieren, dass ein liebenswürdiger Bibliothekar die nicht mehr erledigten Kopien nachschickt … Das Publikum der BILIPO besteht hauptsächlich aus Wissenschaftlern und Studenten, aber auch Journalisten, Autoren und interessierte Privatleute konsultieren die Bibliothek. „Die Einzigartigkeit der BILIPO hat dazu geführt, dass sie zu einer obligatorischen Zwischenstation geworden ist für alle, die sich in irgendeiner Form für Kriminalliteratur interessieren. Die Nutzer haben daher ganz unterschiedliche Hintergründe, und es gibt zahlreiche Kooperationen mit anderen Akteuren des Krimigenres – mit Autoren, Verlegern oder Organisatoren von Krimifestivals. All dies macht unsere Arbeit sehr lebendig und immer wieder überraschend“, sagt Catherine Chauchard, Leiterin der BILIPO seit ihrer Eröffnung im Jahr 1995.Anfragen der Bibliotheksnutzer werden oftmals an Michèle Witta verwiesen, eine wahre Spezialistin, die die Geschichte des Genres ebenso gut kennt wie seine aktuellen Tendenzen. Für sie „ist Lesen eine Krankheit – ich kann es einfach nicht lassen. Ein Krimi pro Tag, das ist wirklich das Minimum“. Über ihre Arbeit in der BILIPO hinaus bietet sie Weiterbildungen zum Kriminalroman an und berät den Pariser Bibliotheksverbund bezüglich der Anschaffung von Neuerscheinungen. Kulturelle Aktivitäten bilden einen wichtigen Bestandteil der Arbeit in der BILIPO: Lesungen, Ausstellungen, Preisverleihungen und die jährliche Buchpublikation Les Crimes de l’Année, in der bis zu 500 Krimis eines Jahres rezensiert werden.

Teil der Ausstellung „Le Polar et la Cuisine“ 2007

Catherine Chauchard arbeitet in diesem Bereich kontinuierlich an der Vernetzung und Kooperation der BILIPO mit anderen Bibliotheken oder kulturellen Institutionen. Als aktives Mitglied der Organisation 1,2,3 Culture, in der sich europäische Kulturzentren wie das Goethe-Institut oder das Centre Culturel Italien zusammengeschlossen haben, nimmt sie teil an der Vorbereitung und Durchführung der interkulturellen Woche Semaine des cultures européennes, die jährlich im Mai in Paris stattfindet. Die BILIPO erfüllt so im besten Sinne die Aufgabe eines Informations- und Kulturzentrums zur Kriminalliteratur und weist mit ihren Aktivitäten weit über den engen Begriff einer Spezialbibliothek hinaus. Ein weiteres Projekt der BILIPO besteht darin, Jugendliche für den Krimi und das Lesen insgesamt zu begeistern: Einmal im Jahr wird der „Prix des Mordus du Polar“ vergeben, dessen Jury aus jugendlichen Lesern der Pariser Bibliotheken besteht. Die diesjährige Preisverleihung an einem heißen Samstagnachmittag im Juni – begleitet von einem Buffet aus Cola und Gummibärchen – begeisterte die Teilnehmer: Der Preisträger Erik L’Homme (ausgezeichnet für Phaenomen, erschienen bei Gallimard Jeunesse) nahm sich während der Signierstunde viel Zeit, um mit Jugendlichen zu sprechen.

Erik L’Homme, Gewinner des Jugendkrimipreises „Prix des Mordus du Polar“ 2007

Nachdem in den ersten Jahren die Etablierung als eigenständige Bibliothek im Vordergrund stand – eine Aufgabe, die längst bewältigt wurde – bleibt nun mehr Zeit für das Alltagsgeschäft: die Schließung von Lücken im historischen Bestand der Sammlungen sowie die Ergänzung des Krimibestandes um verwandte Genres (Feuilletonromane und Populärliteratur), um fremdsprachige Literatur und andere Medien, z. B. Filmplakate oder Spiele. Und natürlich sieht sich die BILIPO – wie jede andere Bibliothek – mit der großen Herausforderung der Digitalisierung konfrontiert, durch die sich bibliothekarische Aufgaben ebenso wandeln wie die Gewohnheiten der Nutzer. Michèle Witta nennt hierfür ein Beispiel: „Früher machten Autoren, die in der BILIPO arbeiteten, einen großen Anteil unserer Besucher aus. Mittlerweile finden Schriftsteller die Informationen, die sie über Waffen, Polizeimethoden usw. benötigen, auch im Internet. Die Nutzer, die der Bibliothek auf diese Weise verloren gegangen sind, werden andererseits aufgewogen durch die wachsende Anzahl an Studenten, die hier recherchieren, da der Kriminalroman immer öfter an der Universität behandelt wird.“ Ein gutes Zeichen für die fortschreitende Anerkennung der Kriminalliteratur – und somit für die Arbeit der BILIPO, auf deren zukünftige Entwicklung man gespannt sein darf.

Kerstin Schoof