Urlaubslektüre
… hat Joachim Feldmann sich gegönnt und erzählt dankenswerterweise davon.
Es sind nicht die schlechtesten Lektüremomente, in denen das in langen Lesejahren antrainierte kritische Bewusstsein der naiven Freude des Wiedererkennens weichen muss. Da taucht in einer Kriminalerzählung unvermutet das winzige, an der Nordküste Norfolks gelegene Dorf Stiffkey auf und schon fühlt man sich seltsam berührt, hat man doch gerade nur wenige Meilen entfernt zwei großartige Ferienwochen verbracht. Und wenn in einer anderen Geschichte desselben Bandes ein junger Mann im Hippiegewand mit einem Aufnahmegerät herumläuft, um authentische Geräusche zu konservieren, die er später zu musikalischen Collagen zu verarbeiten gedenkt, sind die Gefühle ähnlich. Schließlich befinden wir uns in den späten sechziger Jahren und Roger, der Tönesammler, spielt in einer vielversprechenden Band, deren Namen man nun nicht mehr nennen muss. Verantwortlich für solche Reminiszenzen ist der englische Autor James Runcie, dessen historisch angelegte Serie um den als Amateurdetektiv tätigen anglikanischen Geistlichen Sidney Chambers inzwischen in den siebziger Jahre angekommen ist. Literarisch konventionell, aber höchst effektiv als Urlaubslektüre. Und in dieser Hinsicht unbedingt den Rabbi-Romanen Harry Kemelmans (1908-1996) vergleichbar, deren Kunst darin besteht, das aufzuklärende Verbrechen in die Peripherie der Romanhandlung zu verbannen.
Seinen direkten Nachfolger hat Kemelmans Rabbi David Small übrigens in der Schweiz gefunden, wo der Judaistik-Professor Alfred Bodenheimer seit einigen Jahren einen Rabbiner namens Gabriel Klein ermitteln lässt. In dessen just erschienenem vierten Fall, „Ihr sollt den Fremden lieben“, geht es um den Mord an einem beliebten Fernsehmoderator. Bodenheimer teilt Kemelmans Interesse an aktuellen sozialen und kulturellen Entwicklungen, aber nicht dessen (oberflächlich) umständliches Erzählverfahren. Den daraus resultierenden Mangel an Subtilität macht er durch ein erhöhtes Tempo wett, so dass man das schlanke Bändchen schon bald zurück in die Bücherkiste packen kann.
Erheblich länger hätte es gedauert, einen umfänglichen Thriller aus einem osteuropäischen Nachbarland, dessen Titel und Autor hier ungenannt bleiben sollen, vollständig durchzuarbeiten, doch zwei Sätze auf Seite 106 (von 473) gaben endgültig Anlass zum Abbruch der bis dahin eher freudlosen Lektüre. „Sie gab sich seinen Zärtlichkeiten hin“, hieß es da. Und weiter: „Ihr Atem wurde schneller, genau wie seiner. Dann schlüpfte sie aus ihrem Nachthemd und schmiegte sich mit nacktem Körper an ihn.“ Mit was auch sonst, fragt man sich.
Nun ist mir die Chronologie meines Lektüreberichts doch ein wenig durcheinander geraten. Tatsächlich konnte ich James Runcies fünften Klerikerkrimi, „Sidney Chambers and The Dangers of Temptation“, erst bei einem Besuch im Souvenirladen der Kathedrale von Ely erwerben – und damit exakt an einem der Schauplätze der Serie. Zu diesem Zeitpunkt war unser Urlaub schon fast vorbei. Zwei Wochen hatten wir in dem malerischen 200 Seelen-Kaff Great Walsingham verbracht, nur einen Spaziergang zum immerhin mindestens 600 Einwohner zählenden Little Walsingham, auch als Englands Nazareth bekannt, entfernt. In jedem Jahr finden sich hier um die 300.000 Wallfahrer ein, um entweder den anglo-katholischen oder den römisch-katholischen Marienschrein zu besuchen. Kein Vergleich mit Lourdes oder Fatima, aber immerhin. Hier wird das Andenken des glücklosen Königs Karl I, dessen Hinrichtung im Jahre 1649 die zeitweilige Abschaffung der englischen Monarchie durch Oliver Cromwell einleitete, hochgehalten. Glücklicherweise gibt es in Little Walsingham nicht nur Devotionalienläden, sondern auch ein paar gute Pubs und ein hübsches Café mit Antiquariat, das eine ziemlich malträtiert ausschauende Paperback-Ausgabe von James Lee Burkes zwölften Dave Robicheaux-Roman „Jolie Blon’s Bounce“ für nur ein Pfund im Angebot hatte. Genau das Therapeutikum, mit dem sich meine Enttäuschung über den laut Werbetext „exzellent“ geschriebenen und „extrem“ spannenden „Politthriller“ (siehe oben) lindern lassen würde. Schließlich bilden Burkes Romane eine Art eigenes Genre und sind deshalb nicht frei von Formelhaftigkeit. Andererseits stattet er seine Figuren mit einem erheblichen Überraschungspotential aus, seinen Helden und Ich-Erzähler eingeschlossen. Es ist allerdings nicht unwahrscheinlich, dass man nach der Lektüre gelegentlich von Alpträumen heimgesucht wird – James Lee Burke versteht sich nämlich auf die Gestaltung sinistrer Psychopathen. Das Exemplar in „Jolie Blon’s Bounce“ nennt sich Legion, ist ein ganz besonderes Scheusal und entwickelt sich zur Nemesis für den latent absturzgefährdeten Robicheaux. Hätte ich die Zeit, würde ich eine vergleichende Studie all der psychisch derangierten Charaktere, die Burkes Romane bevölkern, erstellen. Da dem, vielleicht zum Glück, nicht so ist, überlasse ich das Thema gerne ambitionierten Amerikanisten. Schließlich hatte ich Urlaub.
Joachim Feldmann
Literaturliste:
James Runcie: Sidney Chambers and The Dangers of Temptation. 336 Seiten. London: Bloomsbury 2017. Ca. € 8,99.
Alfred Bodenheimer: Ihr sollt den Fremden lieben. Rabbi Kleins vierter Fall. 192 Seiten. Zürich: Nagel & Kimche 2017. € 20,00.
James Lee Burke: Jolie Blon’s Bounce. 375 Seiten. London: Orion 2002. (Eine deutsche Ausgabe erschien 2003 unter dem Titel „Die Schuld der Väter“ bei Goldmann.)