Geschrieben am 12. November 2011 von für Bücher, Crimemag

Klassiker-Check: Ruth Rendell – A Sleeping Life

„Not for me“

– Mal wieder gibt es Neuauflagen der Wexford-Fälle in Großbritannien, und das Random House-Imprint Arrow lockt auf dem Rückumschlag: „Ruth Rendell’s timeless Wexford novels continue to intrigue, enthral and surprise readers time and time again“. Grund genug, sich einen der alten Wexfords vorzunehmen. Ein Klassiker-Check von Henrike Heiland.

Vor zwei Jahren noch wollte Rendell mit Wexford aufhören, sagte sie der Presse, doch 2011 ließ sie ihn im Ruhestand ermitteln und verband mit „The Vault“  ihre nunmehr 22-teilige Ermittlerserie mit einer ihrer standalone novelsA Sight For Sore Eyes“. Seit Mitte der sechziger Jahre ermittelt Wexford und musste mitsamt seiner Familie sehr viel langsamer altern, um die über vierzig Jahre fiktionalen Polizeidienst im fiktiven Kingsmarkham erfüllen zu können. „A Sleeping Life“, erschienen 1978, zeigt ihn da schon als einen Mann in den Fünfzigern, der zwei erwachsene Töchter hat.

George Baker in der Rolle des Inspektor Wexford

Banal, aber …

Der Kriminalfall ist banal. Eine tote Frau mit einem geheimen Leben in London, keiner weiß etwas über sie, keiner scheint sie zu vermissen, die Spur führt mehr so zufällig zu einem erfolgreichen Autor, der aber gerade im Urlaub ist und von dem nur verschwommene Fotos existieren. Dann findet die Polizei … usw., usw. Man muss kein gewiefter Krimileser sein, um jetzt schon zu wissen, dass die Tote in London als Mann lebt und in dieser Existenz erfolgreich Bücher schreibt, aber das hebt sich die Autorin als vermeintliche Knallerüberraschung bis fast zur letzten Seite auf. Man rollt natürlich ständig

Cross-dressing Calamity Jane

mit den Augen beim Lesen, weil es so offensichtlich ist, dazu so Agatha Christie in einigen Details, man möchte sich angesichts dieses dünnen Plots fremdschämen. Frauen als Männer verkleidet hatte schon Shakespeare, und da war er auch nicht der Erste. Und „zeitlos“? Wohl der falsche Ausdruck. Besonders, wenn es um Polizeiarbeit geht. Eher „von quasihistorischem Interesse“, weil man sich ständig daran erinnern muss, welche kriminaltechnischen Methoden vor über dreißig Jahren noch erst erfunden werden mussten.

Im Grunde passiert nichts in diesem Buch, man könnte Wexford mit einer Zeitung im Sessel sitzen und sich Bericht erstatten lassen, ganz Sherlock Holmes, der am Ende aufgrund einiger Stichworte und dank seiner umfassenden Bildung (Wexford ist sehr belesen) im Hirn den Fall löst. „Zeitlos“ wird hier zu „anachronistisch“.

… auch stark

Und doch zeigt auch das schlechteste Buch in der Wexford-Reihe die Stärken Rendells. Die Verarbeitung gesellschaftspolitisch relevanter Themen auf allen Handlungssträngen zum Beispiel. Hier geht es, wie so oft bei ihr, um die Rolle der Frau: Wexfords Tochter Sylvia trennt sich von ihrem Mann, weil dieser sie lieber in der Rolle der Hausfrau und Mutter sieht. Sylvia hingegen will ihren Abschluss machen und sich dann einen Job suchen. Das dazu nötige Au Pair-Mädchen verweigert er ihr, und Sylvia gräbt sich schlecht gelaunt und auf der Suche nach Argumenten durch feministische Literatur. Sylvias Mutter, Wexfords Frau Dora, ist tödlich beleidigt, weil sie genau das Leben gerne gelebt hat, das Sylvia verachtet. Die Tote wiederum hatte ihre Art von Befreiung aus der ihr zu engen Frauenrolle, indem sie in London als Mann lebte und beruflich erfolgreich wurde.

Andere Frauenbilder werden angerissen, und mal abgesehen von dem angestaubten Maskenball muss man am Ende feststellen: Ja, doch irgendwie zeitlos, auf dem Gebiet der Frauenfrage hat sich noch nicht genug getan, zu der übrigens ein Spiegel-Leser in dieser Woche meinte, das Verhalten zweier deutscher Ministerinnen beweise den „nachtragenden, rechthaberischen Zickenkrieg, der sich zwischen Männern so nie austrägt, weil meist sachlicher argumentiert wird“. Äh ja.

Letztens erst lief eine „Law & Order“-Folge , in der ein Junge wie ein Mädchen erzogen wurde (inklusive Operationen und Hormonbehandlung), weil bei der Beschneidung etwas schiefgegangen war und der Arzt fand, eine Geschlechtsumwandlung sei einfacher zu verkraften als eine Penisprothese. Der Junge war nie darüber aufgeklärt worden, dass man seinen Körper manipuliert hatte, und der Arzt stellte die These in den Raum, dass Geschlechterzuweisung wie auch sexuelle Orientierung Erziehungssache seien, was die Produzenten der Folge implizit ablehnten, indem sie den Jungen, der ein Mädchen sein soll, wie einen Jungen handeln lassen. Was wiederum voraussetzt, dass es angeborene Verhaltensweisen gibt, die als typisch männlich oder typisch weiblich gelten. Ein Gebiet, das immer noch für Ratlosigkeit und Diskussionen sorgt.

Themen …

Rendell hat solche Themen bis heute in ihren Büchern. Verleugnete Sexualität, Anpassungsschwierigkeiten an gewisse gesellschaftliche Erwartungen, die Probleme von Migranten in der britischen Provinz, das Dilemma von politisch zu korrektem Verhalten, häusliche Gewalt, es ist alles dabei, und es gibt nie eine einfache Antwort, eher noch mehr Fragen, und nie verliert sie die Frauenfrage aus den Augen. Die Wexford-Reihe hat den Vorteil, dass solche Themen mithilfe der unterschiedlich angelegten Figuren brav durchexerziert und einmal um die eigene Achse gedreht werden können. Der entscheidende Nachteil ist, dass die wirklich interessanten Figuren ausschließlich im Rückblick und gefiltert durch Wexfords Perspektive vorgestellt werden können.

… und Figuren

Vermutlich der Grund, warum Rendell – unterstelle ich ihr einfach mal – dieses zweite Produktionsfeld hat. Ihre standalone novels, in denen sie eben solchen Charakteren auf den Grund gehen kann. In denen sie sie in den Wahnsinn treibt und zeigt, wie es zum Äußersten kommt, wie der Tod oder das Töten unausweichlich werden. Und schließlich hat sie ja noch ihre Zusatzexistenz als Barbara Vine, die wiederum einen Schritt weiter geht, noch experimentierfreudiger umspringt mit den allgegenwärtigen psychologischen Abgründen. Abseits von Wexford macht es richtig Spaß, dieser Frau zuzusehen. Wexford bringt zwar am Ende etwas mehr Ordnung in die Welt, schafft aber auch Distanz zum Geschehenen.

„A Sleeping Life“ – wunderschöner Titel (schrecklich ins Deutsche geholt mit „Leben mit doppeltem Boden“), eigentlich auch ein packendes Thema, aber durch die notwendige Perspektive und die behäbige Polizeiarbeit nicht mehr als vage angerissen. Zu Recht bekam Rendell die vielen Preise für die Nicht-Wexford-Romane.

Das Fazit bringt Wexford am Ende des Buchs selbst, als sein Vorgesetzter die nächste Runde im Pub ordern will: „Not for me“.

Henrike Heiland

Ruth Rendell in bei kaliber38