Geschrieben am 12. Dezember 2005 von für Bücher, Litmag

Kirsten Fuchs: Die Titanic und Herr Berg.

Ausgefuchster Erstling oder This is not a love song

Gerne wird jungen deutschen Debütautoren vorgeworfen, dass sie sich mit ihren Texten kaum über den Tellerrand eigener Erfahrungen hinauswagen (der oft genug an den Grenzen diverser Berliner Stadtbezirke endet). Kirsten Fuchs siedelt ihren Erstling zwar ebenfalls in Berlin an, doch ist die Hauptstadt lediglich mehr oder weniger beliebige Kulisse, und kein tragendes Element der Handlung.

„Die Titanic und Herr Berg“ erzählt von einer ungewöhnlichen, von Beginn an zum Scheitern verurteilten Beziehung: Da ist zum einen Tanja, so um die Zwanzig, mit einem arg gestörten Verhältnis zu Sexualität und Beziehungen. Da ist zum anderen Peter Berg, 42 Jahre alter Sachbearbeiter im Sozialamt, der auf zwei gescheiterte Ehen und ein ebensolches Leben zurückblicken kann. Kirsten Fuchs erzählt die Kollision der beiden Figuren aus der jeweiligen Ich-Perspektive. Tanja erzählt in zumeist kurzen Sätzen und selbst wenn sie Einschübe oder Nebensätze benutzt, wirken diese abgehackt: „Auch Männer haben Angst vor Spinnen und vor Frauen, darum bin ich ein Mädchen. Ich habe alles in klein, aber nicht zu klein.“
Gleiches gilt für ihre Sätze. Sie wirken klein, sind aber oft erschreckend tiefgründig: „Ich hatte meinen Lieblingsjoghurt mit Birnen und Körnern, dann wurde er vom Markt genommen, weg. Der liebe Gott nimmt Produkte vom Markt, damit wir uns nicht zu sehr an etwas gewöhnen. Er lässt Menschen sterben, damit wir uns andere suchen. Es sind ja genug da. Nicht drängeln, für jeden ist ja ein Freund da.“

Einfältige, provozierende Weltsicht

Aus Tanjas Worten und Taten spricht eine einfältige Weltsicht, die den Leser provoziert wie die illustren Gestalten aus Nachmittagstalkshows. Man will sie aus ihrer Traumwelt schubsen und hofft, dass sie endlich auf einen Psychiater trifft statt in die Hände von Peter Berg zu fallen. Mit ihrer naiven Geilheit gibt Tanja dem Vorurteil Nahrung, dass dumm gut ficke. Sex ist für sie gleichbedeutend mit Liebe und so setzt sie illusorische Erwartungen in das Verhältnis, das sie mit ihrem Sachbearbeiter beginnt: „Am Freitag bin ich zum Sozialamt gegangen, um Sex zu beantragen, mit Kino vorher und essen gehen vorher und beieinander übernachten nachher, alles. Ich will meinen Mann ausführen und neben ihm laufen, spazieren.“ Peter Berg hingegen, in bester Midlife-Crisis gefangen, nimmt die Gelegenheit, die sich ihm bietet, gerne mit. Er ist ein Zyniker, voller Abscheu für seine Klientel, verbittert über das Leben als solchem. Wenn Herr Berg spricht, klingt er wie eine von Sibylle Berg erdachte Figur: „Sie lacht. Wie kann man nur so viel Scheiße reden? Normalerweise denke ich diese Scheiße nur. Das ist meine innere Scheiße und jetzt ist Tanja mein Klo. Das ist das Schönste, was ich je über sie gedacht habe. Mein Klo.“
Wenn Tanja und Peter aufeinander treffen, geht es ohne Umschweife zur Sache. Kirsten Fuchs findet für die zwischen Erotik und Pornografie pendelnden Episoden überzeugende Sprachbilder aus beiden Perspektiven. Sowohl Tanjas als auch Peters Sicht wird mit stilistischer Brillanz durchgehalten, da kann man auch verzeihen, dass zum Beispiel die Schilderungen des Alltags im Sozialamt gängige Klischees bedienen.

Und ziemlich versteckt liefert die Autorin auch Hinweise auf die Gründe für Tanjas Beziehungsstörung, Hinweise auf traumatische Kindheitserlebnisse und Selbstverstümmelung. Da taucht das Wort „Heim“ in einem Nebensatz auf, in dem Tanja behauptet, dass ihre Eltern gestorben seien. Erst spät, in einer Unterhaltung mit ihrer Schwester, kann man einen kurzen Blick auf das ganze Ausmaß ihrer Persönlichkeitsstörung erhaschen, die recht eindeutig für ein Borderline-Syndrom spricht. Am Ende nimmt die Titanic wieder Fahrt auf, wogegen der Eisberg arg angeschlagen zurückbleiben wird.

Der 1977 in Chemnitz geborenen Tanja Fuchs gelingt es in ihrem Erstling, eine tragische Story mit radikalem Wortwitz zu erzählen und inhaltliche Klischees mit sprachlicher Raffinesse zu überspielen.

Frank Schorneck

Kirsten Fuchs: Die Titanic und der Herr Berg. Rowohlt Berlin. 286 Seiten, 18,90 Euro.