Chronik eines unangekündigten Todes
– Der 1981 geborene Kevin Power zertrümmert mit seinem furiosen Romandebüt jegliches Klischeebild der grünen Insel. „Die letzte Nacht des Sommers“ zeigt ein Irland fernab saftiger Kerrygold-Weiden und Tourismus-broschüren, blickt hinter die Fassade eines ritualisierten Trinkens, offenbart die Perspektivlosigkeit der Jugend und das Funktionieren alter Seilschaften des in der letzten Dekade wirtschaftlich boomenden Landes. Das Buch wäre uns beinahe durchgerutscht, aber was schert uns Aktualität … Frank Schorneck auf jeden Fall ist beeindruckt …
Eskalation
Ein junger Mann ist getötet worden in einer Sommernacht in Dublin und ein anderer junger Mann hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Chronik der Ereignisse zu rekonstruieren. Die Motive des Ich-Erzählers sollen sich dem Leser erst auf den letzten Seiten erschließen, zunächst muss er mit dem Geständnis leben, dass der Erzähler in jener schicksalhaften Nacht nicht dabei war, dass er zahllose Gespräche geführt, Dokumente gewälzt und Gerichtsverhandlungen besucht hat, um einzelne Puzzlesteine zusammenzufügen. Wer die Tat begangen hat, ist von Beginn an klar, fraglich sind nur die genaueren Umstände, die unglückliche Verkettung von Ereignissen, die zu einer ungeahnten Eskalation geführt haben. Wodurch starb Conor Harris? Waren es die Schläge, die er einstecken musste, war es der Sturz? Welcher der drei Tritte, die ihm, am Boden liegend, gegen den Schädel prallten, hat seinen Tod verursacht? Und in welcher Reihenfolge haben die drei Beschuldigten zugetreten? Warum benötigte der Krankenwagen über 40 Minuten und warum sah die Polizeistreife nichts?
Recht
Weder das Gericht noch der Erzähler finden Antworten auf all diese Fragen, doch der Roman geht sehr tief an die Wurzeln der Frustration und Gewalt: Alle Beteiligten, Opfer wie Täter und der größte Teil der Zeugen, kennen sich seit Grundschulzeiten und doch zeichnet sich ein tiefer Graben zwischen ihnen ab, der die gesellschaftlichen Konflikte des heutigen Irland zeigt. Die drei Täter sind Schüler einer Eliteschule, angesehene Spieler des Rugby-Teams (und die tödlichen Tritte sind trainierte Rundschwung-Tritte wie aus dem Lehrbuch). Der Erzähler rekonstruiert ausgehend von der Tat ihre Vorgeschichten, spart auch den Konflikt zwischen Opfer und Haupttäter um ein Mädchen nicht aus. Er zeigt aber auch, wie die Täter zunächst nicht den Schutz der Familie aufsuchen, sich nicht der Polizei stellen, sondern sich dem Rugbytrainer und Schulpfarrer anvertrauen. „Was die Jungen von jeder anderen Gruppe reicher junger Männer unterschied, war, dass sie die Söhne von Männern waren, die das Land lenkten“ – dieses Geständnis setzt eine Maschinerie in Gang, in der es darum geht, mit möglichst guten Anwälten eine möglichst milde Strafe zu erlangen. Schließlich sind ehemalige Eliteschüler auch in der Justiz zu finden.
Reichtum
Nach Kevin Power liegt eines der Probleme des jungen Irland darin, dass dieses Land reich wurde, ohne dass man wusste, wie man mit Reichtum umzugehen hatte – das Geschehen spielt vor dem Niedergang des keltischen Tigers. Drogen und sogar Zigaretten sind in der amerikanisch orientierten Jugend, für die die makellose Fassade in Markenklamotten alles ist, zwar verpönt, aber am Wochenende ist die Zeit fürs Komasaufen gekommen. Essstörungen und Ritzen kommen als typische Probleme der Mädchen hinzu.
Hart
Kevin Powers Prosa ist hart und schonungslos. Immer wieder kehrt sein Erzähler zu den Details der Tat zurück, dreht und wendet Sätze, die unmittelbar nach der Tat und später in der Gerichtsverhandlung gesagt worden sind. Durch diese zirkuläre Struktur wird der Roman ungemein intensiv, sowohl Täter wie auch Opfer werden zu greifbaren Personen. Dass er an einen wahren Fall angelehnt ist, barg für die Rezeption in Irland noch zusätzlichen Zündstoff.
Frank Schorneck
Kevin Power: Die letzte Nacht des Sommers (Bad Day in Blackrock, 2008). Roman. Deutsch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Köln: KiWi 2010. 298 Seiten. 8,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Zum Literaturmagazin Macondo.