Geschrieben am 22. Oktober 2014 von für Bücher, Litmag

Kenneth Mackenzie: Was sie begehren

HB Mackenzie_978-3-446-24644-7_MR.inddGlück & Elend der Pubertät

–Wolfram Schütte über den vielgesichtigen Internatsroman „Was sie begehren“.

Wer mag bei Hanser Berlin auf den Autor gestoßen & auf die Idee gekommen sein, Kenneth Mackenzies Roman „The Young Desire It“ nun unter dem deutschen Titel „Was sie begehren“ zu publizieren? Schließlich passiert es ja nicht alle Tage, dass einer unserer Verlage ein 1937 ersterschienenes Buch eines für uns ohnehin völlig unbekannten australischen (!) Autors übersetzen lässt & ohne publizistischen „Begleitschutz“, gewissermaßen „schutzlos“, dem deutschen Markt zuführt, auf dem die Kritiker wie die von ihnen traktierten Leser allenfalls die kräftig protegierten Bücher deutscher Debütanten aufmerksam wahrnehmen?

Wie lange noch, fragte ich mich während der Lektüre, werden solche Fischzüge in zeit- & örtlich fernen Literaturen von unseren Qualitäts-Verlagen noch gewagt werden (können)? Denn das ökonomische Risiko auf dem prekären Belletristik-Markt wird umso mehr wachsen, je weniger die Kritik noch von Lesern/Käufern für maßgeblich erachtet wird, bzw. die Kritik selbst das Risiko nicht mehr eingeht, vom Mainstream abzuweichen & solchem verlegerischen Mut wenigstens durch ihre Aufmerksamkeit & Wahrnehmung zur Seite zu stehen?

Der australische Autor, der 1913 geboren wurde & 1955 „in einem Fluß“ ertrunken ist (wie Hanser mitteilt, damit man nicht annimmt, er sei an einer der Küsten des 5. Kontinents zu Tode gekommen) hat den Erfolg seines Debütromans mit keinem seiner folgenden Bücher wiederholen können – ein nicht ganz unübliches literarisches Schicksal, das vor allem bei stark autobiographisch motivierter & unterfütterter Literatur oft zutrifft.

Das ist ganz offensichtlich der Fall bei Kenneth Mackenzie. Das macht die „Zueignung“ des Romans „The Young Desire It“ doppelt deutlich, weil der Autor auf der „Wahrheit“ des romanhaft Camouflierten besteht, will sagen auf der nächsten Nähe des Selbsterlebten. Dabei ist es unerheblich, ob er (wie zu vermuten) in vielem jener Charles Fox ist, der im Mittelpunkt des Romans steht oder ob er mit ihm „nur“ die Vaterlosigkeit & den Internatsaufenthalt teilt – wie, sagen wir, Robert Musil in seinem Romandebüt die „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ rund ein halbes Jahrhundert früher in „Kakanien“.

Aus dem Natur-Paradies vertrieben in die Anstalt

Der „Internatsroman“ ist vor allem im Angelsächsischen, wo Internate verbreiteter sind als bei uns, ein eigenes literarisches Genre. In Mackenzies australischer „Boarding School“ stammen denn auch einige Lehrer aus Großbritannien – wie der heimwehkranke Junglehrer Christopher Penworth, der sich um den ebenso hübschen wie intellektuell viel versprechenden Halbwaisen Charles besonders kümmert; und zwar auch deshalb, weil seine homosexuelle Veranlagung in dem 15jährigen ein blühendes Objekt seiner lange unterdrückten, aber einmal in einem leidenschaftlichen Kuss ausgebrochenen Neigung gefunden zu haben glaubt. Der leicht den Tränen nahe Charles aber, den seine derben älteren Mitschüler deshalb hänseln & drangsalieren, ist (obwohl im hitzigen Fegefeuer der Pubertät) in die gleichaltrige Margaret verliebt, die er in den Ferien zuhause auf dem Land getroffen hatte.

Zuhause: das ist eine einsame Farm im weitläufigen Buschland des Landesinnern, wo er nach dem frühen Tod seines alkoholkranken Vaters, allein mit seiner Mutter glücklich wie im Paradies der Natur lange lebte. Sie hat den Sohn aufs Internat geschickt, damit der Halbwaise zum Mann geformt wird & später einmal gesellschaftlich avanciert. Margaret gehört zu einer verarmten schottischen Familie, deren Tante in der Nähe eine Farm betreibt, wohin das junge Mädchen, das auch auf einem Internat ist, in ihren Ferien kommt.

Kenneth Mackenzie war 23 Jahre alt, als er sein literarisches Debüt verfasste & sich gewissermaßen sein „Frühlings Erwachen“ von der Seele schrieb – auch Wedekinds Theaterstück behandelt ja auf erstaunlich mutige Weise für seine puritanische Zeit die Irrungen & Wirrungen der Pubertät. Jedoch musste Wedekind 1891 wie auch noch Mackenzie 1937 vieles „durch die Blume“ sagen, was spätere Autoren wie etwa der filigran evozierende Harald Brodkey „in plain words“ ausdrückten – von solchen Autoren wie Henry Miller oder Philip Roth ganz zu schweigen.

Wobei der „blumige Stil“ des Australiers nicht nur der Schwierigkeit zuzuschreiben ist, dass für jene seelisch-erotischen Bereiche, in die er literarisch vorgestoßen ist, noch keine adäquate Sprache vorhanden war, welche von der „Schicklichkeit“ erlaubt war; auch Mackenzies eigenes idealistisches Bewusstsein verführte ihn nicht selten zu eigenartig verschraubten Formulierungen & Abstraktionen, die im besten Fall unverständlich, im schlechteren verquast sind.

„Schlackenlos“ ist die Prosa des Autors also nicht.Aber man sollte als heutiger Leser vorsichtig mit seinem Urteil über die ästhetischen Eigenarten des australischen Autors sein, der sich u.a. an die komplexe seelische Befindlichkeit eines Jungen wagt, von dem sein nur knapp zehn Jahre älterer Lehrer behauptet, er „(kombiniere) das nervöse Temperament eines Mädchens mit der Willensstärke und dem Verstand eines Mannes“. Neben manchen stilistischen Befremdlichkeiten & Exaltiertheiten, die schon zu seinen Zeiten literarisch riskant gewesen mögen, findet man jedoch eine Fülle ebenso gelungen-schöner wie psychologisch triftiger Formulierungen. In der folgenden Passage evoziert er Charles‘ Erregung, als er während seiner Ferien auf dem Land in der Gegend herumrennt, um den weit entfernten Zug zu sehen, mit dem Margaret eintreffen wird:

„Am Wegrand sank er zu Boden. Sein Atem ging schnell und war trocken vom Rennen, und das warme, trockene Gras, in dem zirpende Insekten vor lauter Sonnenuntergangsfieber den Verstand verloren, duftete in der windstillen Luft süß wie Blumen. In der Ferne glühten die Gipfel der blauen Berge im letzten Licht, der Himmel hinter ihnen war weiß. Bei ihrem Anblick musste er daran denken, wie er Margaret von den einsamen Männern dort oben erzählt hatte, die im Sommer nach der Arbeit herunterkamen, um den Abendzug vorbeifahren zu sehen. Verrückt hatte er sie damals genannt, dabei war er auf seine Weise genauso verrückt wie sie. Ihnen ging es um einen sichtbaren, hörbaren Beweis, dass die Welt jenseits ihrer einsamen Hütten noch existierte; er wollte sichergehen, dass die Welt, die er kannte, nicht plötzlich auf die engen Grenzen seiner Wahrnehmung zusammengeschrumpft war. Letzten Endes war es wohl wirklich eine Art Wahnsinn, der alle Einsamen auf dieser Erde befällt. Im Gras um ihn herum tobte die Abendandacht der Insekten wie ein unsichtbares Meer, von Horizont zu Horizont, von Osten bis an den blutroten Westen. Auch seine Haare hatten gelodert, doch die Flamme erlosch schlagartig. Alles Licht stieg in den Himmel auf und verschwand; die Nacht brach herein.“

Mackenzies offenbar autobiographisch unterfütterter Roman bleibt jedoch keineswegs bei dem hochsensiblen Portrait seines jungen Helden stehen. Ebenso eindringlich widmet er sich den Stimmungslagen des in den hübschen Charles verliebten englischstämmigen Lehrers Penworth, der das Internat verlässt, nachdem ihm seine prekäre Zuneigung zu Charles bewusst geworden ist.

Verwirrungen einer männlichen Unschuld vom Lande

Aber ebenso intensiv wie er die Natur sinnlich dynamisiert & erotisch auflädt, wendet sich Mackenzie auch dem sensiblen Corpus des Internats, seinen Schülern & Lehrern oder auch deren wechselseitigen Beziehungen & Konflikten zu. Kein Hauptwort wird häufiger von ihm für die Grundsituation seiner Personen benutzt als „Einsamkeit“. Mit ihr sind alle geschlagen: die pubertierenden Jugendlichen ebenso wie die Erwachsenen – wie z.B. auch Charles‘ Mutter, die als Witwe den Sohn ebenso wenig verlieren möchte wie der in ihn verliebte Lehrer. Dass beide Margaret vehement ablehnen, verwirrt den Jungen, der in seiner Unschuld nicht versteht, dass Mutter wie Freund seine mögliche Geliebte als ihre Konkurrentin nicht akzeptieren.

Aber Charles Fox, der erstaunlicherweise ebenso heißt wie der bald nach seiner Ankunft gestorbene Internatslehrer (ohne dass einem klar würde, was diese erstaunliche, nicht verwandschaftsbedingte Namensgleichheit in diesem Roman bedeutete), ist unumkehrbar, wenn auch dunkler als die anderen, „vom Ruf des Fleisches“ bedrängt, auf dem schwierigen Weg aus der Pubertät zum Erwachsenen. Seine erste, von beiden überaus keusch & gefühlsselig erlebte Liebe zu Margaret wird vergehen, weil das Mädchen mit ihrer wesentlich älteren, verheiraten Schwester nach England auswandert. Aber zuvor wird das von dem puritanisch-diskreten, gleichwohl hoch erotischen Autor immer wieder beschworene „Begehren“ der jungen Liebenden – als sei er bei den jüngsten französischen Philosophen in die Schule gegangen – einmal erfüllt: als Charles & Margaret am Ende ihrer letzten gemeinsamen Ferien in einem einsam gelegenen Fluß baden & sich beide erstmals in paradiesischer Nacktheit „erkennen“.

Mit dem ihm eigenen hohen Pathos-Ton beschreibt Kenneth Mackenzie diesen Moment:

„Auf einen Ellbogen gestützt, richtete sie sich auf und plötzlich schwebte ihr Gesicht direkt über seinem. Sie war der Tag. (…) Als sie sich über ihn beugte, sah sie ihn, ohne ihn zu sehen, und zitternd sehnte er sich danach, die samtene Schwere ihrer geschwollenen Lippen zu schmecken, die sich jetzt mit der blinden Konzentration der Liebe öffneten. Das Wissen in ihrem Blick war so unermesslich, dass er davor die Augen verschloss, und als er aufschreien wollte, hielt sie ihm den Mund zu.(…) Sie konnten nicht mehr lächeln, nichts mehr sagen, nicht einmal den Namen des anderen aussprechen, der ihre Gedanken doch ganz beherrschte. Die Macht des Tages war ungebrochen. Selbst in ihrem schattigem Schlupfloch wurden sie Opfer seines siegreichen Feldzuges, denn er trieb sie einander in die Arme und machte sie glauben, dass es ihr eigener Wille war, dem sie nur blind folgten. Und mit kalter Hoheit ließ er schließlich Margarets einzigen Schrei widerhallen, den Aufschrei einer Befreiung aus einer langen Tyrannei.“

Aber Kenneth Mackenzie hat kein australisches Pendant zu D.H. Lawrence‘ „Lady Chatterley’s Lover“ geschrieben; sein erstaunlich vielgesichtiger Internatsroman widmet sich mit großer Feinfühligkeit & gedanklich-psychologischer Delikatesse den glückseligen & den schmerzlichen Irrungen & Sehnsüchten der pubertierenden Liebenden, die ihrer existenziellen Einsamkeit entkommen wollen.

Zur Übersetzung wäre nichts Nachteiliges zu sagen, würde Viola Siegemund nicht gelegentlich der heutige Alltagsjargon in die Quere kommen & z.B, statt eines schlichten „Habe ich damit recht?“ sich ein „Liege ich damit richtig?“ einschleichen. Certainly not!

Wolfram Schütte

Kenneth Mackenzie: Was sie begehren (The Young Desire It, 1937). Roman. Aus dem Englischen von Viola Siegemund. Hanser Berlin, 2014. 349 Seiten. 16.99 Euro.

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