Was ist schon Wahrheit?
Immerhin etwas, was als Schweizer Novelle über eine Tragödie in Peking erzählt werden soll. Zum Beispiel von Jörg Amann: Pekinger Passion. Die Form macht’s, stellt Joachim Feldmann fest …
Ein Schüler verliebt sich in eine junge schöne Lehrerin, die in der Parallelklasse Geschichte unterrichtet. Seine Gefühle muss er für sich behalten, dennoch versucht er, ihr näherzukommen. Auf einem Schulausflug kommt es zu einer kurzen erotischen Begegnung, die den jungen Mann verstört zurücklässt. Seine Verzweiflung nimmt zu. Er schickt seiner Angebeteten Briefe und Gedichte, Zeugnisse einer todessüchtigen Phantasie, die sich mit extremer Eifersucht mischt, als er die Lehrerin zusammen mit einem älteren Mann sieht. Selbstmordgedanken werden verworfen, stattdessen lauert er der Frau in einem Park auf und versucht, sie zu vergewaltigen. Dann bringt er sie um und zerschneidet die Leiche in Stücke, die er in der Umgebung verteilt. Leicht kommt die Polizei auf seine Spur, denn die Lehrerin hat all seine Briefe und Gedichte aufbewahrt. Er gesteht das Verbrechen, wird zum Tode verurteilt und hingerichtet. Doch das vermeintliche Mordopfer taucht 20 Jahre später wieder auf. Wer also war die Tote, deren Körperteile im Park gefunden wurden? Warum hat der 17-jährige Teng Xingshan eine Tat gestanden, die er offenkundig nicht begangen hat?
Rätsel über Rätsel
Es war die Meldung einer chinesischen Nachrichtenagentur, die den Schweizer Erzähler Jürg Amann die Idee zu seiner Kriminalnovelle Pekinger Passion geliefert hat. In fünf Protokollen versucht er, dem unerhörten Ereignis literarische Form zu verleihen. Auf die Wiedergabe der Zeitungsnotiz folgen das Geständnis des „Täters“, eine Stellungnahme der Mutter des „Mordopfers“ und Berichte von Polizei und Staatsanwaltschaft. Im letzten Kapitel schildert die ehemalige Lehrerin ihre Sicht der Ereignisse. Das heißt, sie fügt den vorhergehenden Aussagen eine erklärende Variante hinzu, deren Wahrheitsgehalt allerdings zweifelhaft bleibt. „Was ist schon Wahrheit?“, lautet dementsprechend der letzte Satz dieses erzählerischen Kabinettstückchens, dessen sachlicher Ton in bemerkenswertem Widerspruch zu der im Titel proklamierten Leidenschaft steht. „Es kostete mich einige Mühe, aber am Ende hatte der Verstand über die Vorstellung gesiegt“, sagt Teng Xingshan, wenn er erläutert, warum er, statt sich umzubringen, den Überfall im Park geplant habe. Auch die Berichte der anderen Beteiligten weisen kaum sprachliche Unterscheidungsmerkmale auf, so dass bereits eine leicht flapsige Wendung wie: „Da würde mir auch kein Zacken aus der Krone brechen“, die dem wieder aufgetauchten „Mordopfer“ in den Mund gelegt wird, ins Auge fällt.
Von makabrer Komik sind andere Details. „Meine Xiaorong, die verschwunden war, von der ich nichts wusste, da war sie wieder, das war sie, lag sie vor mir, wenn auch in Stücken“, erinnert sich die Mutter der angeblich Ermordeten, während der Staatsanwalt darauf hinweist, dass die Gedichte des mutmaßlichen Täters laut Gutachten „von einiger Qualität“ waren.
Literarische Qualität beansprucht auch dieses Buch für sich, und zwar vor allem, indem es eine deutliche Grenze zu dem markiert, was der Autor offenbar für die typischen Eigenschaften des Krimigenres hält. Die von Xiaorong am Ende referierte Auflösungsvariante beispielsweise könnte nämlich problemlos als Plot eines durchschnittlichen Spannungsromans herhalten. Doch darum ging es Amann nicht. Seine Kriminalnovelle erkundet auf ungewöhnliche Weise die Abgründe des menschlichen Vorstellungsvermögens und fördert dabei vor allem weitere Rätsel zutage. Und weil es gemeinhin als große Kunst gilt, scheinbar triviale Stoffe durch eine traditionsreiche literarische Form zu adeln, hat sich dieses Büchlein die entsprechende Anerkennung redlich verdient.
Joachim Feldmann
Jürg Amann: Pekinger Passion. Kriminalnovelle. Zürich-Hamburg: Arche Verlag. 2008. 126 Seiten. 16,00 Euro.