Geschrieben am 5. Dezember 2012 von für Bücher, Litmag

Julian Barnes: Unbefugtes Betreten

Die großen Dinge des Lebens

– Julian Barnes ist ein Meister, wenn es um die Darstellung menschlicher Beziehungen geht. Schon in seinem letzten Werk „Vom Ende einer Geschichte“ zeigte der Booker-Preisträger auf beeindruckende Weise den menschlichen Hang zum Betrug, Selbstbetrug und die vergebliche Wahrheitssuche. Von Sahar naz Parsa

Sein neuer Erzählband „Unbefugtes Betreten“ besteht aus 14 Kurzgeschichten und erzählt mit außerordentlichem Witz, Ironie und sprachlicher Leichtigkeit von Paarbeziehungen – von Freundschaft und Liebe. Doch unter der Textoberfläche brodelt es gewaltig: Da werden Erinnerungen an die sprachphilosophische Skepsis im Sinne von Nietzsches „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ geweckt – eine pessimistische Sicht auf menschliche Beziehungen und auf Sprache als Instrument zur Wahrheitsfindung. Bei dem Versuch dem Leben seine Geheimnisse zu entlocken , stößt der Mensch immer wieder an seine Grenzen. Die Sehnsucht nach Liebe und der Versuch, sich anderen mitzuteilen und zum anderen vorzustoßen, enden kläglich in Betrug und Selbstbetrug.

Barnes Paare werfen Fragen auf: Ist die Beziehung, die sie eingehen, eine stillschweigende Übereinkunft zum Selbstbetrug? Suchen wir im anderen Ergänzung, Übereinstimmung oder das (un-)vollkommene andere? Sind wir in der Lage, den anderen in seiner Andersartigkeit anzunehmen, oder sind und suchen wir insgeheim Projektionsflächen für unerfüllte und unbewusste Sehnsüchte?

Das Tragische der menschlichen Existenz

Da wäre der 37-jährige, geschiedene Immobilienmakler Vernon, der es gewohnt ist, „immer alles zu vermasseln“. Als er die osteuropäische Kellnerin Andrea kennenlernt, ist sein Problem nicht nur, „dass er noch nie gut flirten konnte, nie ganz das Richtige sagte“, sondern dass er ein vermeintliches Geheimnis in ihrem Leben nicht ertragen kann. Selbstbetrug und Betrug am anderen werden in Kauf genommen, das Verbot des „unbefugten Betretens“ der Privatsphäre des anderen wird ignoriert.

Barnes führt uns das Tragische und Wehmütige der menschlichen Existenz vor, die darin besteht, dass unser Dasein letztendlich niemals zu ergründen ist. Dies liegt mitunter nicht nur an der Unfähigkeit der Sprache, die Dinge in ihrer Vollkommenheit zu erfassen und wiederzugeben, sondern ist ebenfalls im Prinzip des Menschseins begründet. „Im Grunde geht es um die Frage: Wie sollen wir wissen, ob jemand die Wahrheit sagt? Wie können wir von irgendetwas wissen, ob es stimmt? Sind wir jetzt bei der hohen Philosophie? Nein, eher bei der niederen Praxis. Ganz allgemein. Wie können wir überhaupt etwas wissen?“

Folgt man Barnes Erzählungen, ist es zum einen die Beschaffenheit der Sprache, die die Wahrheit weder vollkommen zu erfassen noch auszudrücken vermag. Zum anderen hindert die grundlegende Disposition des Menschen, seine Veranlagung zu Machtgier, Heuchelei, Betrug und Selbstbetrug ihn daran, wahrhaftig zu den Dingen und Mitmenschen vorzudringen – stets scheitert er an der eigenen Unzulänglichkeit und an unüberbrückbaren Gräben zu anderen.

So wie die alternden Schriftstellerinnen Jane und Alice in der Erzählung „Mit John Updike schlafen“, deren Kommunikation nur so vor Neid, Heuchelei und verletzter Eitelkeit strotzt. Auch nach 40-jähriger Freundschaft und Zusammenarbeit kommen sie über erlebte Enttäuschungen in der Vergangenheit nicht hinweg. Verletzungen werden nicht verziehen, auf allen Ebenen herrscht Konkurrenz- und Machtkampf. Der Intellekt und der Körper werden zum Schlachtfeld erklärt, auf dem (unausgesprochene) Konflikte ausgetragen werden: „Und was Moby Dick betraf, war für jedermann sonnenklar gewesen, dass Jane nicht ein Wort davon gelesen hatte. Gleichwohl war das der konstante Vorteil der gemeinsamen Auftritte mit Jane. Dadurch sah sie, Alice, besser aus: klar, nüchtern, belesen, schlank.“

Freundschaften und Beziehungen zeigt Barnes als selbstgewählte Zwangsgemeinschaften, durch die man der eigenen Einsamkeit, Vergänglichkeit und Bedeutungslosigkeit zu entfliehen versucht. Echte Annäherung kommt dabei niemals zustande. „Plötzlich schien es ihr sehr wichtig, sich zu vergewissern, dass Alice sie nicht im Stich lassen würde. Sie schaute das Telefon an und überlegte, was Alice wohl gerade tat. Doch dann stellte sie sich das kurze, missbilligende Schweigen vor, ehe Alice ihre Frage beantwortete, das irgendwie zu verstehen gab, dass ihre Freundin bedürftig, theatralisch und übergewichtig war.“ Bei Barnes offenbart sich die Wahrheit, das Gemeinte im nicht Gesagten, im Schweigen. Gesprochenes hingegen trägt stets die Spuren von Verfälschung und Heuchelei in sich.

Die Sinne als verlässliche Orientierungsmittel

Allerdings bietet der zweite Teil des Buches einen halbwegs versöhnlichen Ausweg an – er handelt von den Sinnen: Intuition und Impulse erscheinen bei Barnes im Vergleich zu Sprache und Vernunft als wahrhaftigere Orientierungsmittel im menschlichen Dasein. In der Erzählung „Komplizenschaft“ beispielsweise schildert die instinktive Annäherung zwischen einem Mann und einer Frau, „das erste Anzeichen, dass man zueinander passen könnte, noch vor dem ängstlich mühsamen Erkunden, ob man »gemeinsame Interessen« hat“, das einzig verlässliche (Liebes-)Indiz. In „Carcassonne“ verliebt sich der Freiheitskämpfer Garibaldi in Anita Riberas, ohne sie zu kennen  oder ihre Sprache zu sprechen. Er erblickt sie auf hunderte Meter Entfernung durch ein Fernrohr – und sie entspricht seinem Geschmack –, und das ist das Einzige, was zählt. Wenn etwas bei Barnes von Wahrhaftigkeit zeugt, dann ist es „der Moment des leidenschaftlich bewegten Geschmacks, den wir suchen“.

In der letzten Erzählung „Pulse“ berichtet der Erzähler schließlich von der vorbildlichen Ehe seiner Eltern und dem Abschied von der Mutter, die infolge einer schweren Krankheit innerhalb kurzer Zeit stirbt. „Je größer etwas ist, desto weniger gibt es dazu zu sagen. Nicht zu fühlen, aber zu sagen. Weil es nur die Tatsache selbst gibt und die eigenen Gefühle zu diese Tatsache. Sonst nichts. […] Mums Krankheit war […] etwas Ungeheuerliches, das keine Sprache hatte und vor dem jede Sprache versagte.“ Es sind die großen Dinge des Lebens, die unsagbaren Phänomene menschlicher Existenz wie Liebe, Trauer und Abschied, vor denen die Sprache kapituliert – Barnes gelingt es dennoch in beeindruckender Weise, sie einzufangen.

Sahar naz Parsa

Julian Barnes: Unbefugtes Betreten (Pulse, 2011). Erzählungen. Aus dem Englischen von Thomas Bodmer und Getraude Krüger. Köln: Verlag Kiepenheuer&Witsch 2012. 304 Seiten. 19,99 Euro.

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