Geschrieben am 8. November 2004 von für Bücher, Litmag

Juli Zeh: Spieltrieb

Der Schrecken des Nichts

Welche Orientierungsmarken und Grenzen gibt es noch in einer Welt, die den „Tod Gottes“ und das Ende der großen Erzählungen zu verkraften hat und in der Recht und Moral durch die universelle Tauschkraft des Geldes ersetzt worden sind? Diese Frage thematisiert Juli Zeh auf packende Art und Weise.

In ihrem neuen großen Roman nach dem hochgelobten Adler und Engel“ stellt sich die erst 30jährige Juli Zeh der conditione postmoderne“ in all ihren Verwerfungen – von der zermürbenden Wiederkehr des ewig Gleichen bis zum apokalyptischen Gewaltausbruch. Sie seziert einen Übergangszustand in einer regellosen, verwirrten und unübersichtlichen Welt“ und als Folie dient ihr dabei das Massaker von Erfurt ebenso wie die medialen Inszenierungen rund um den Irak-Krieg.

Intellektuelle Überfliegerin und Einzelgängerin

Zehs Protagonist ist die 14jährige Ada. Sie ist eine intellektuelle Überfliegerin und Einzelgängerin, die gerade auf das Bonner Ernst Bloch-Gymnasium gewechselt ist – eine Wiederaufbereitungsanlage für verlorene Seelen“, in der das Prinzip Hoffnung aufrecht erhalten wird. Ada tritt als Urenkelin der Nihilisten des späten 19. Jahrhunderts auf und hat mit ihrem ätzenden Verstand, der sich schon durch die gesamte Weltliteratur gefressen hat, die Welt und das Ich von allen schönen Kleidern entblättert und ist nun beim Nichts angelangt: Das Nichts auf Erden und im eigenen Kopf, das Fehlen von Gründen, von Sinn oder Zweck birgt den höchsten Schrecken.“

Lediglich Adas Geschichtslehrer Höfi kann es in seinem Sarkasmus mit dieser durch Nietzsches Schule gegangenen Neo-Nihilistin aufnehmen. Doch dann stürzt sich diese letzter Halt und Anhaltspunkt vom Dach der Schule und mit Höfi war das ganze alte Europa vom Dach gesprungen, im Geschichtslehrer starb auch die Geschichte.“

Kongenialer Konterpart

Ihren kongenialen, diabolischen Konterpart findet Ada in ihrem neuen Klassenkameraden Alev, einen entwurzelten Kosmopoliten mit der Intelligenz und Härte eines Wahnsinnigen. Zusammen mit Ada treibt er den Sport- und Deutschlehrer Smutek in ein perfides Spiel hinein, hinter dem der Abgrund lauert. Alev will beweisen, dass das Spiel die letztmögliche und deshalb letztglückliche Seinsform für unsere Gattung bereithält.“
Juli Zeh wirft mit Spieltrieb“ grelle Schlaglichter auf unsere geistige Gegenwart. Philosophisch dicht und zugleich hoch unterhaltsam treibt sie die uns unter den Fingernägeln brennenden existentiellen Fragen auf die Spitze. Vielfältig – und gar nicht einmal anmaßend – sind dabei die Anklänge und Verweise auf ihre großen literarischen Ahnen wie Dostojewskis Schuld und Sühne“, Musils Mann ohne Eigenschaften“ oder Manns Zauberberg“, an dessen Dialoge zwischen Settembrini und Castorf sie in ihren besten Passagen stark erinnert. Endgültig hat sich Juli Zeh mit Spieltrieb“ so in die erste Riege der deutschen Gegenwartsautoren geschrieben.

Nuanciert und ohne in anachronistische Gut“- oder Böse“-Kategorien zurückzufallen, löst Juli Zeh ihre raffinierte Versuchsanordnung schließlich in einem packenden Gerichtsprozess auf. Zurück lässt uns die studierte Juristin mit einer durchaus verzwickten Erkenntnis: Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren. Wenn nicht – erst recht.“

Karsten Herrmann

Juli Zeh: Spieltrieb. Schöffling & Co 2004. Gebunden. 566 Seiten. 24,90 Euro. ISBN: 3-89561-056-9