Geschrieben am 18. Januar 2014 von für Bücher, Crimemag

José Muñoz & Carlo Sampayo: Carlos Gardel. Die Stimme Argentiniens

Muñoz_Sampayo_Carlos_GardelWer die Amsel tötet …

José Muñoz & Carlo Sampayo haben ein großes, neues Album vorgelegt: „Carlos Gardel. Die Stimme Argentiniens.“ Verbrechen, Musik und Politik gehören bei ihnen immer zusammen – so auch hier. Thomas Wörtche über zwei hierzulande immer noch sträflich unbekannte Künstler und ihre listige Sabotage an verdächtigen Denkschubladen.

José Muñoz (Bild) und Carlos Sampayo (Text), die beiden Argentinier aus Buenos Aires mit Wohnsitz in Italien resp. Spanien, gehören zu den großen Konzeptkünstlern des Comics, die endgültig die Auseinanderdividierbarkeit von Bild und Text in dieser Kunst beendet haben. Ihre „Standardthemen“, die sie immer wieder umkreisen, sind Musik (vor allem Jazz, Sampayo ist auch ein bedeutender Jazz-Publizist), Politik und Kriminalliteratur. Prototypisch in ihrem großen Zyklus um den Privatdetektiv Alack Sinner, bei dem alle diese Komponenten zusammenlaufen. Prototypisch auch in ihrem Billie-Holiday-Album, denn Lady Day stand auch in der Realität an der Schnittstelle dieser Themenfelder.

ALACK_SINNER_TRILOGIESo gesehen ist ein Album über Carlos Gardel im Gesamtwerk der beiden Porteños nur logisch. Der Tango, der aus den arrabales kommt und auch eine getanzte Messerstecherei – und nicht nur getanzte Sinnlichkeit ‒ sein kann, ist zunächst einmal Musik von unten, aus allerlei ethnischen Einflüssen zusammengebraut, Musik der Bordelle und der Straßen, der Gewalt und des Argots, der in Buenos Aires lunfardo heißt. Jorge Luis Borges, der sich mit ihm beschäftigte, wusste schon, warum er ihn nicht mochte: zu vulgär und in seiner kriminellen Energie so ganz gegenläufig zu seinem Konzept von literarischem Verbrechen und sublimer Detektivliteratur. So allmählich, wir sind in den 1910/20er Jahren, kommt der tango canción auf, der gesungene Tango, der bei Gardel noch durchaus derb sein konnte („El Choclo“, der Maiskolben, ist einer der berühmteren Texte, der ganz sicher nicht von Gemüse handelt), in die feineren Kabaretts wanderte, übers Meer nach Paris migrierte und von dort mit neuen Nuancen versehen, wieder nach Argentinien kam. Sein Star war jetzt Carlos Gardel mit dem pomadisierten Kopf, dem man nun auch eine französische Herkunft zutraute (war das nicht viel schicker?) und der das inzwischen erheblich ausdifferenzierte Publikum auf mehreren Ebenen bedienen konnte.

Sampayo_billie_holidayTango & Crimen

Aus „El Morocho del Abasto“ („Der Dunkle aus Abasto – ein Viertel)  wurde Gardel , „el zorzal“ (die Amsel, na ja, Drossel, um ganz genau zu sein), der nach USA ging, um Filme zu machen und viel Geld zu verdienen. Die politische Rechte in Argentinien, die traditionellerweise mit dem organisierten Verbrechen verbandelt war (und ist), reklamierte Gardel für sich, so wie die Linke auch – die 1930er Jahren waren gewaltsatt am Rio de la Plata.

Kurz: Gardel war zu einem nationalen Symbol geworden und als er 1935 im kolumbianischen Medellín bei einem Flugzeugabsturz umkam, begann der Mythos sich aufzubauen. Und natürlich auch der Elvis-Effekt: Gardel lebt.

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Hier setzt der Comic von Muñoz/Sampayo an. Sie inszenieren im argentinischen Krisenjahr 2000 (wir erinnern uns: Kollaps der nationalen Finanzmärkte, Pauperisierung des Mittelstandes, die Klassengegensätze treten noch offener zu Tage als ohnehin) eine alberne TV Diskussion (gesponsert von einem „Haarfestiger für den unabhängigen Mann“) um das „argentinische Wesen“ (an und für sich) und um die Rolle, die Gardel bei so etwas spielen könnte. Zwei Besserwisser, einer aufgeblasener als der andere, hacken auf einander ein, wer denn nun die Deutungshoheit über Gardel und damit die Nationalseele hat. Von draußen glotzt mürrisch und wütend ein greises Individuum namens Merval der ridikülen Angelegenheit zu, der sich schon zu Gardels Lebzeiten als dessen „bessere“ Ausgabe verstanden und sich vom Meister nur neidvoll blockiert sah. Eigentlich, behauptet Merval, habe er Gardel schon früh umgebracht und ihn durch sich ersetzt und gehöre (welt-)historisch auf dessen Platz.

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War Gardel schwul?

Auch kein gutes Thema für eine „Identitätsdebatte“ ist in einem von Machismo schon fast sprichwörtlich geprägten Land die Diskussion, ob Carlos Gardel zu einer anderen Frau als seiner Mutter je eine Beziehung gehabt habe. Oder schlicht: War Gardel schwul?

Muñoz und Sampayo inszenieren das Spiel um Gardels Persönlichkeit mit Rückblenden und Mosaiken aus seinem Leben, die allesamt Material zu der Talkshow-Fiktion liefern sollen, je nachdem, welche Position dort vertreten wird. Aber statt Ordnung in die Dinge zu bringen, verwirren sie die Angelegenheit mit ihren wie stets beeindruckenden s/w-Panels vorsätzlich und virtuos. Ihre Bildsprache ist eine großartige Weiterentwicklung des polyvalenten, flächigen, anti-realistischen und enigmatischen Stils von Alberto Breccia (neben Hugo Pratt die zentrale Figur des lateinamerikanischen Comics), dem es – wie auch Muñoz und Sampayo – um die Zersplitterung von dogmatischen Sinnangeboten ging.

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Die manchmal expressionistisch ausgeleuchteten, dann japanisch tuschezarten, dann wieder mit vielen Achssprüngen filmisch (à la Dämonische Leinwand) ausgeleuchteten und zwischen rätselhaften close-ups und vollgestopften Totalen ozillierenden, dann Frans-Masereel’sch derb holzschnittartigen, dann wieder caligari-haft bizarr verzerrten Bilder torpedieren das, was auch die Paratexte simulieren: Die Queste nach dem argentinischen Wesen.

Der Comic kreist um die Frage und führt sie mehr und mehr ad absurdum. Carlos Gardel ist ein Mythos, der nur eine Substanz hat: Seine Musik. Selten ist die ideologisch so problematische Kategorie der „nationalen Identität“ künstlerisch so elegant erledigt worden.

Thomas Wörtche

Dieser Text erschien in erstmals in den LiteraturNachrichten  N° 119/Winter 2013/2014.
José Muñoz & Carlo Sampayo: Carlos Gardel. Die Stimme Argentiniens (Carlos Gardel. La voix de l’Argentine. 2008/2010). Comic. Aus dem argentinischen Spanisch von Rike Bolte. Handlettering von Céline Merrien. Berlin: Reprodukt 2013. 126 Seiten. 20 Euro. Verlagsinformationen zum Buch und weitere Leseproben.

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