Geschrieben am 15. Mai 2013 von für Bücher, Litmag

Jordi Punti: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz

Jordi Punti Die irren Fahrten des Gabriel DelacruzCristòfol, Christopher, Christof und Christophe

– Europa ist ja längst kein einheitliches, sondern ein ziemlich grob zusammengeschustertes Gebilde. Auch in der Literatur, wo es nach wie vor starke nationale, aus europäischer Perspektive letztlich also: regionale Schreibkulturen gibt, während „die“ europäische Literatur weiter auf sich warten lässt. Immerhin, gelegentlich gibt’s Ausnahmen, die diese Regel bestätigen. Im Moment zum Beispiel der Katalane Jordi Punti, dessen Roman „Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz“ dank eines klugen Kniffs beides ist: völlig regional und absolut europäisch.

Puntis Titel-Held Gabriel Delacruz stammt aus Barcelona, er ist so um die 60, ein Kind der Franco-Zeit, Waise mit unklarer Herkunft – und jetzt ist er spurlos verschwunden. Gabriel ist in der Franco-Zeit in einer klösterlichen Erziehungsanstalt aufgewachsen, er hat in seinem Erwachsenenleben dies und das und jenes gemacht, letztlich aber die meiste Zeit als Möbelpacker gearbeitet, mit Fahrten quer durch Europa, und familiäre Beziehungen, so scheint’s, waren nie sein Ding.

Allerdings macht die Polizei ein paar Wochen nach Gabriels Verschwinden in Barcelona einen Sohn des Vermissten aus, der zwar seit vielen Jahren – samt seiner Mutter, die ihn allein großzog – keinen Kontakt mehr zum Vater hatte, trotzdem aber ein paar Tage später neugierig durch dessen leere Wohnung streift – und dabei eine überraschende Entdeckung macht: Es gibt noch mindestens drei andere Söhne im selben Alter, drei Halbbrüder also, und zwar in verschiedenen europäischen Ländern. Cristòfol nimmt Kontakt zu Christopher, Christof und Christophe auf, man versteht sich ganz gut, dann machen die vier sich zusammen auf die Suche nach dem Vater …

Auf die Suche, das heißt: Vier Lebensgeschichten aus vier Ländern werden beleuchtet. Gemeinsam wird mit vierfacher Kraft zugleich die Geschichte des Einen rekonstruiert, der gemeinsamer Bezugspunkt der vier ist. Und das alles dient – auch dieser wieder eine Geschichte, die sich aus Geschichten zusammensetzt – drittens letztlich der Recherche der Frage: Wie geht’s dem Vater; wo könnte er sein; wie reagiert er, wenn er seinen Söhnen begegnet?

Jordi Punti inszeniert all diese Geschichten und Geschichtchen mit einem ganzen Bündel an literarischen Mitteln, die er virtuos durchspielt und mit gut dosierter, freundlicher Ironie unterfüttert. „Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz“ ist ein Reigen an Anekdoten, ein Perlen von Episoden, ist Abenteuergeschichte, Road-Novel, Bericht, Recherche, Familien- und Unterhaltungsroman. Und vor allem: europäische Literatur im wahrsten Sinn des Wortes, da in der Grundidee der Geschichte strukturierend angelegt. Ein katalanischer Möbelpacker fährt durch Europa – so leicht kann’s gehen …

Ulrich Noller

Jordi Punti: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz (Maletes Perdudes, 2010). Aus dem Katalanischen von Michael Ebmeyer. Kiepenheuer & Witsch 2013. 608 Seiten. 19,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch und zum Autor.

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