Es möchte echt sein
– Amerika macht es Zynikern schwer. Was aus der Ferne wie ein brodelnder Kessel Irrsinns aussieht, zerfällt aus der Nahperspektive in Realitäten, die tragisch, anrührend, großartig und bisweilen tatsächlich irrsinnig sind, selten aber jene Komplexität vermissen lassen, an der Vorurteile notwendig scheitern. Das hat freilich nicht verhindert, dass Amerika selbst seine scharfzüngigsten Kritiker hervorgebracht hat. Von Joe Paul Kroll
Sich unter diese illustre Schar einzureihen, zeigt John Jeremiah Sullivan kein Bedürfnis. Er geht von einer anderen Feststellung aus, an der kaum ein Besucher Amerikas vorbeikommt: Das Land ist bevölkert von überaus wohlmeinenden, zuvorkommenden und zutiefst unzynischen Menschen. Und diesen wohlmeinenden, vor allem aber: authentischen Zeitgenossen möchte Sullivan Tribut zollen.
Die Reportagen, die John Jeremiah Sullivan, geboren 1974, seit einigen Jahren zunächst vor allem in der GQ, inzwischen im New York Times Magazine veröffentlicht, widmen sich mitunter, aber nicht unbedingt marginalen, wenig beleuchteten Themen: Leben und Tod Michael Jacksons oder Hurricane Katrina dürften zu den meistkommentierten Ereignissen der letzten Jahre gehören. Um zu erahnen, wie Sullivan diesen Themen dennoch neue Aspekte abgewinnen will, ist die Bemerkung vielleicht nicht ganz unangebracht, dass Sullivan ein Kind der Südstaaten ist. Sullivan begreift sich als doppelt exzentrisch: Einer aus der Provinz, der seine Herkunft auch in der Metropolenpresse nicht leugnet, aber auch jemand, der nicht einfach wieder in sein Nest zurückkehren und so tun kann, als sei er immer noch ein good old boy unter vielen.
Diese Verlegenheit auf den Punkt zu bringen findet Sullivan gleich in der ersten Reportage den passenden Schauplatz – ein Christenrockfestival im ländlichen Pennsylvania – und eine Metapher, deren Klobigkeit Absicht sein könnte: Sullivan ist in einem neun Meter langen Wohnmobil unterwegs, das selbst in den Vereinigten Staaten ungewollte Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Die Menschen, denen Sullivan auf dem „Creation“ begegnet (und die ihm beim Rangieren seines Gefährts behilflich sind), sind nun keine tumben Bible bashers, die mit Frohsinn und Hypokrisie hausieren gehen. Schon von seinen ersten Bekanntschaften heißt es: „[D]iese Jungs aus West Virginia hatten so viel Wärme. Sie strömte geradezu aus ihnen heraus.“ Gut, sie finden den Gedanken komisch, einer von ihnen könnte „halb N-Wort“ sein, sie braten Frösche am Lagerfeuer und zeigen sich den Versuchungen der großen Welt gegenüber etwas naiv. Aber:
„Während der drei Tage, die ich auf dem Creation Festival verbrachte, habe ich nicht eine Schlägerei erlebt, kein einziges im Zorn gesprochenes Wort gehört, mich nicht ein einziges Mal provoziert gefühlt, noch nicht einmal leicht, und ich habe jede Menge Menschen kennen gelernt, die außergewöhnlich freundlich waren. Ja, sie hatten alle dieselbe Hautfarbe, glaubten alle und dasselbe und tranken keinen Alkohol, aber es waren immerhin hunderttausend.“
Ob diese letzten Attribute notwendige oder auch nur hinreichende Bedingungen für das Vorhergehende sind, ist eine Frage, die so alt ist wie die Soziologie. Lassen wir sie daher im Raum stehen. Denn zunächst fällt auf, wie angenehm sich Sullivans Perspektive auf das Christenrockfestival abhebt von den altklugen Jungspunden die, kaum ihrer Lokalzeitung entronnen und bei einem semialternativen „Szene-“Blatt angeheuert, die Gelegenheit nicht verstreichen lassen würden, Hohn zu ergießen über Bundfaltenjeans und Funktionsjacken und über das Geschäft mit dem Glauben sowieso. Sullivans Lehre ist dagegen recht banal: Die Leute auf dem Christenfest sind auch nur Menschen, und zwar mehrdimensionale, jedenfalls von Zweifeln geprägte, die der Heimat bedürfen, die ihnen der fromme Trubel bereitet. Schlimm genug, dass solcher Humanismus schon ein Alleinstellungsmerkmal ist.
Das Wohnmobil reguliert auch weiterhin die Distanz, die Sullivan zu seinen Mitcampern hält – bald kommen sie ihn darin besuchen, bald schließt er sich ein und weint. Offenkundig wird dabei, wie Sullivan mit dieser Distanz ringt und der Versuchung zur Überkompensation erliegt:
„Darius sagte mit vielsagendem Blick: ‚Gott segne dich.‘ Dann sagte er noch: ‚Hey Mann, falls du über uns schreibst, kannst du mir einen Gefallen tun?‘
‚Klar‘, sagte ich.
‚Schreib, dass wir Gott lieben‘, sagte er. ‚Schreib meinetwegen, dass wir einen Knall haben, aber schreib auch, dass wir Gott lieben.‘“
Die Distanz bleibt unüberwunden, doch verloren geht dabei das Vermögen oder auch nur das Bedürfnis, das Wahrgenommene anders denn allgemein-menschlich einzuordnen. Auf dieser Ebene bleiben auch Sullivans Gedanken zu einem nächtlichen Konzert, vom Kerzenschein erleuchtet:
„Natürlich dachte ich an Nürnberg. Aber am meisten dachte ich an Darius, Jake, Josh, Bub, Ritter und Pee Wee, die ich wahrscheinlich nie wieder sehen werde, die ich aber ins Herz geschlossen hatte und die Gott liebten – das hätte ich auch geschrieben, wenn Darius mich nicht darum gebeten hätte, es ist vielleicht das Wahrste an diesem Text: Sie haben einen Knall, und sie lieben Gott.“
Ist das die einzig denkbare Alternative: Nazivergleich oder Gefühlsduselei? Lässt sich der Christenrock nicht auch im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung als gesellschaftliches Phänomen verstehen? Zu einem solchen Verzicht auf die Autorität des Autors passt schließlich auch die Behauptung, das Wahrste am eigenen Text sei, was einem in die Feder diktiert worden ist. Der Gedanke, Distanz könnte auch Respekt bezeugen, findet hier keinen Platz. Die ostentativ zur Schau gestellte Empathie ersetzt die Erkenntnis.
John Jeremiah Sullivan leistet einen Beitrag zum Mythos vom postparteiischen Amerika, der inmitten einer beispiellosen ideologischen Polarisierung immer wieder beschworen wird: Mit dem nötigen Verständnis für den Anderen lassen sich die Gegensätze irgendwie überwinden, man trifft sich um der guten, gemeinsamen Sache Willen in der Mitte, denn – um die Angelegenheit noch weiter zu verkürzen – man ist sich ja einig in der Sorge um die Familie, den Job usw. Doch die Natur der Gegensätze, die Amerika durchziehen, wird damit verzerrt, von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wirklichkeiten abgelenkt.
Um von der Ideologie- zur Stilkritik zurückzukehren: Es ist etwas an der Masche Sullivans, die in der Wiederholung recht bald zu nerven beginnt. Das zeigt sich schon am nächsten Stück, „Das finale Comeback des Axl Rose“. Nicht, dass Axl Rose keine geistvolle Betrachtung wert wäre. Doch Sullivan schildert seine Hochachtung vor, ja Liebe zu Axl Rose wie ein Gastronom, der vielleicht nicht bei McDonalds isst, wohl aber ein gutes Philly cheesesteak zu schätzen weiß, also mit einer Gebärde, die sagen will: Seht her, ich bin ein Mann des Volkes, ich stehe nicht über den Dingen, aber ich verfüge über die Sprachgewalt, sie zu adeln.
Diese Reportage dreht sich wieder um Herkunft: Sullivan sucht Roses Wurzeln in Lafayette, Indiana auf, einem Nest von äußerster Nichtigkeit: „Er kommt aus dem Nichts.“ Diesem Nichts gewinnt Sullivan dann doch einiges an Beschreibung ab, angefangen bei Axl Rose selbst: „Er sieht aus wie ein Mann, den ich vor zwölf Jahren um zwei Uhr morgens an einer Autobahnraststätte in Monteagle, Tennessee, alleine habe essen sehen.“ Das ist, nicht ganz unpassend, eine Nichtbeschreibung par excellence. Auch wenn sie wohl Verlorenheit evozieren soll, so bleibt diese Zeile, wie so manche andere, Füllsel.
Vielleicht ahnte auch Sullivan das beim Überarbeiten der Texte, oder der Lektor der amerikanischen Buchausgabe, oder seine insgesamt sehr kompetenten deutschen Übersetzer, denn einige Exzesse der Originalversion, wie sie in GQ erschienen ist, fehlen hier: Etwa die Kapiteleröffnung „I know the collage number gets cute fast, but I beg you to indulge me in a personal-experience thing.“ – Ein Beispiel also, wie Sullivan in dieser Reportage die Aufmerksamkeit nicht nur auf seine Person, sondern auf seine Arbeitsweise lenkt, ein Ankumpeln des Lesers, das wohl Kritik vorbeugen soll – aber eben auch die Schwäche seiner Methode recht akkurat beschreibt. Auch die folgende Zeile hat die deutsche Buchveröffentlichung nicht ganz unbeschadet überstanden: „I’m afraid that, overall, I can’t agree with my fellow ink-stained wretches in the Old World. This show kicks much ass.“ – Das ist schade, denn sie ist typisch für eine Vermischung gewählter und umgangssprachlicher Tonlagen, die Sullivans überdrehten Stil kennzeichnen.
An dieser Stelle bietet sich der Vergleich mit einem amerikanischen Essayisten und Romancier an, dem Sullivan (nicht in diesem Band) unlängst seine Hochachtung erwiesen hat: David Foster Wallace. Auch Wallace setzte sich recht ausführlich mit seiner provinziellen Jugend auseinander, und auch Wallace mischte unterschiedliche Stilebenen systematisch durcheinander. Schließlich gehörte es wohl zu seiner Tragik, dass er gemocht werden wollte. Wallaces obsessive Detailschilderungen stehen dennoch im Gegensatz zum Vorgehen Sullivans. Denn während bei diesem die Maschinerie der Beschreibung auf Hochtouren leer läuft, blitzen aus Wallaces minutiösen, fußnotengesättigten Beobachtungen immer wieder Gedanken hervor, die seinen Gegenstand tatsächlich erhellen. Auch findet sich in Wallaces Essays eine Tiefe der Selbstreflexion, die sich eben nicht in deren pathetischem Gestus erschöpft.
Noch näher liegt der Vergleich zu einem dritten Autor, der ebenfalls um seine Herkunft aus dem amerikanischen Süden viel Gewese machte: Tom Wolfe, als dessen Nachfolger der Kritiker des Magazins Time Sullivan inthronisierte – „Is John Jeremiah Sullivan the New Tom Wolfe? Yes. Yes He Is.“ –, ohne es der Erklärung für nötig zu befinden, warum das nun eine gute Sache sein sollte. Gleich Wolfe zündet Sullivan auf jeder Seite ein Feuerwerk aus flotten Sprüchen, überdrehten Phrasen und Beobachtungen, die ihren Anspruch auf Originalität vor allem aus dem Duktus ihres Vortrags beziehen. Sullivan reichert diese Mischung noch um einen kräftigen Schuss Sentimentalität an. Die Demut, mit der Sullivan sich des Urteilens enthält, rückt ihn doch stets in den Vordergrund. „Writers are always selling somebody out“, schrieb die junge Joan Didion. John Jeremiah Sullivan scheitert am Gegenbeweis. Denn seine Reportagen zeigen, dass bedingungsloses Wohlmeinen den Subjekten gegenüber auf Kosten der Erkenntnis geht. Freundlichkeit ist nicht gleich Redlichkeit, die eben auch der Sache gelten muss, und sie ist keine Tugend für Essayisten.
Joe Paul Kroll
John Jeremiah Sullivan: Pulphead. Vom Ende Amerikas. Übersetzt von Thomas Pletzinger und Kirsten Riesselmann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 416 Seiten, 20,00 Euro. Eine Leseprobe und aktuelle Lesungstermine finden Sie hier.