Geschrieben am 13. Februar 2004 von für Bücher, Litmag

John Irving: Die vierte Hand

Licht und Schatten

Ohne Zweifel bietet „Die vierte Hand“ viele köstliche Episoden und erstaunliche Glanzlichter des Absurden und Melancholisch-Zärtlichen – doch über die gesamte Strecke seines 400-Seiten-Romans gelingt es John Irving nicht einen unwiderstehlichen Lese-Sog zu erzeugen

In seinen rund ein dutzend Romanen hat John Irving hinreichend unter Beweis gestellt, dass er sowohl ein Meister des Skurrilen und Absurden wie auch des unerschrockenen Tabubruchs ist. Oft bilden dabei ganz banale Erlebnisse, Zeitungsnotizen oder Fernsehberichten die Keimzelle seiner in der Regel exzessiv ausschweifenden Geschichten: „Am Anfang jedes Romans, den ich geschrieben habe“, erläutert der amerikanische Erfolgsautor gerne, „stand ein ‚Was wäre, wenn…“

Eben dieses „Was wäre, wenn…“ hat John Irving – ausgehend von einem Bericht über die erste Handtransplantation in den USA – auch in seinem neuen Roman bis in seine feinsten, fantastischsten Verästelungen ausgereizt. Im Zentrum des Geschehens steht der blendend aussehende Sonderkorrespondent David Wallingford, dessen linke Hand bei einer Reportage in Indien einem hungrigen Zirkuslöwen zum Opfer fällt – und der so für das in abertausendfacher Reproduktion gezeigte Medienereignis der Saison sorgt. Fortan firmiert er nur noch unter dem ehrfürchtig bis spöttisch verwandten Markennamen „Der Löwenmann“ und wird in seinem „Nachrichten“-Sender zu dem Spezialisten für „ziellose Akte höherer Gewalt und willkürlichen Unsinn“.

Dieser David Wallingford ist ein merkwürdiger Mann, der zwar durchaus talentiert, aber von wenig Ehrgeiz getrieben ist, sich nur allzu leicht verführen lässt und in „sexueller Anarchie“ lebt – so dass es in diesem Buche in geradezu groteskem Ausmaße von „Ständern“, „Erektionen“ und feuchten Berührungen wimmelt. Doch auch in diesem bravourösen Polygamisten steckt eine tiefe Sehnsucht nach Zärtlichkeit und dauerhafter Geborgenheit, die sich erstmals in einem durch ein wundersames indisches Schmerzmittel verursachten Traum sinnlichst offenbart.

Fünf Jahre nach seinem Unfall findet sich für David Wallingford ein potenzieller Spender, der zunächst zwar noch quicklebendig ist, aber schon alsbald unglücklich ums Leben kommt. Eigenhändig liefert dessen kinderlos gebliebene Witwe Doris Clausen die sorgfältig gekühlte Hand ab – nicht ohne sich „für die Zeit nach der Transplantation ein Besuchsrecht“ aus zu bedingen und sich noch davor von David eisprunggenau schwängern zu lassen.

John Irving brennt in „Die vierte Hand“ mit sprühender Fantasie ein höchst skurriles Feuerwerk ab, bei dem er auch manche Rakete auf unsere ruchlose Mediengesellschaft abfeuert. In nicht immer überzeugender Verbindung erzählt er zugleich eine Liebes- und Entwicklungsgeschichte: Denn der oberflächliche Medienmensch David, der „Fernsehen in seiner schlimmsten Spielart“ verkaufen muss, stolpert über viele Betten und Irrtümer sowie über den neuerlichen Verlust seiner gerade frischangewachsenen Hand auf die selige Erfüllung seines „Blaue Kapsel-Traums“ aus Indien zu.

Ohne Zweifel bietet „Die vierte Hand“ viele köstliche Episoden und erstaunliche Glanzlichter des Absurden und Melancholisch-Zärtlichen – doch über die gesamte Strecke seines 400-Seiten-Romans gelingt es John Irving nicht einen unwiderstehlichen Lese-Sog zu erzeugen: Allzu sehr leidet der Spannungsbogen unter den vielen nur locker miteinander verbundenen Subgeschichten und den geradezu haarsträubend willkürlichen Ent- und Verwicklungen.

Karsten Herrmann

John Irving: Die vierte Hand. Roman. Diogenes, 439 S., 21,90 Euro.