Geschrieben am 15. Dezember 2008 von für Bücher, Litmag

Jochen Schmidt: Schmidt liest Proust

Heftige Liebeserkrankung

– Jochen Schmidt nimmt uns hautnah mit in Gefühlszustände, die wir alle kennen, und tritt dabei dem Klassiker unbelastet von zu viel Hintergrundwissen entgegen. Von Tina Manske

Im Jahr 2006 unternahm Jochen Schmidt, bekannt insbesondere durch seine Tätigkeit bei der von ihm mitbegründeten Berliner Lesebühne („Chaussee der Enthusiasten“) das Experiment, täglich 20 Seiten der Recherche von Marcel Proust zu lesen und darüber zu schreiben, ganz so, als wäre er der erste Leser, also ohne Rückgriff auf irgendwelches Wissen aus der Sekundärliteratur. Daraus entstand zunächst ein Blog. In leicht überarbeiteter Form sind die Texte nun als dickes Buch bei Voland & Quist erschienen.

Die Lektüre dieses Buches hat zunächst einen entschiedenen Vorteil: Wer wie ich bei seiner eigenen Reise durch die Suche nach der verlorenen Zeit irgendwann im dritten Band der „Welt der Guermantes“ stecken blieb und es danach nie wieder schaffte, den Faden aufzunehmen, der kann das, in der charmanten Begleitung von Schmidt, nun in verkürzter Form nachholen. Schmidt teilt seine tägliche Lektüreerfahrung in zwei Teile ein. Im ersten Teil berichtet er in Form eines Tagebuchs vor allem über sich selbst und seine aktuellen Reisen und Unternehmungen, im zweiten Teil folgt dann eine rasche Zusammenfassung der gelesenen Proust-Portion, selbstverständlich mit vielen Zitaten. Schmidt liest Proust vor allem als „unterschätzten Ironiker“, und er weiß, die untergründige Komik dieses oft als schwierig verschrienen Werkes herauszuarbeiten.

Zeuge einer Geburt

Freilich geht es hier nicht um billige Pointen: „Die Herzogin aber behandelte ihren Mann mit jener Art Kühnheit, welche Dompteure oder Menschen, die mit einem Verrückten zusammenleben und nicht fürchten, ihn zu reizen, in sich zu entwickeln pflegen“, zitiert er, um danach kurz nachzufassen: „Besser ist die Art, wie sich bestimmte Eheleute verhalten, nie beschrieben worden.“ Schmidt selbst kam in der Zeit des Projekts „eine heftige Liebeserkrankung“ in die Quere, „an der ich Proust die Schuld gebe“. Seiner Meinung nach benötigt man für diese Lektüre eine besondere Stimmung der Seele, so wie man ein Instrument stimmt , und diese Stimmung macht offensichtlich besonders anfällig für Liebeskummer.

Schmidt liest Proust ist aber auch gerade deswegen solch eine kurzweilige Lektüre, weil der Autor uns hautnah mitnimmt in Gefühlszustände, die wir alle kennen, und dabei dem Klassiker unbelastet von zu viel Hintergrundwissen entgegentritt, aber dennoch nicht respektlos. Denn bei aller Mühsal, die er zuweilen beim Lesen erleidet, weiß er die Recherche als großes Buch zu würdigen, das man hier einmal aus einer ganz anderen Perspektive betrachten kann. „Man könnte sagen, daß man nicht sterben sollte, ohne Proust gelesen zu haben. Aber in Wirklichkeit ist man dann noch gar nicht geboren“, schreibt Schmidt in seinem Vorwort. Wir wohnen hier also auch noch einer (nicht immer leichten) Geburt bei.

Auf der dem Buch beigelegten Audio-CD liest Jochen Schmidt einige Auszüge aus seinem Buch vor, und wer kein regelmäßiger „Radio-Eins“-Hörer ist und daher den monotonen Klang von Schmidts Stimme noch nicht von den dort gesendeten Auszügen aus Meine wichtigsten Körperfunktionen kennt – oder eben von der Lesebühne –, der wird überrascht sein, wie schön seine scheinbar dem Schicksal ergebene, wenig Modulationen anstrebende Diktion eine Einheit mit den Texten eingeht.

Tina Manske

Jochen Schmidt: Schmidt liest Proust. Quadratur der Krise. Buch mit Audio-CD. Voland & Quist,2008. 608Seiten, gebunden. 64 min. Spielzeit. 19,90 Euro. Hörprobe bei Voland & Quist.

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