You name it, he hates it
Neues vom Pausenhof: Jens Balzers POP ist eine höchst anregende Lektüre.
Musik, Platten, Konzerte: Wie beschreibt man etwas, das sich den Sprachbildern immer entziehen will, in diesem Fall (Pop)Musik als Hörerlebnis, Konzertsäle als Körpererfahrung – dieser eine Beat, Bass oder Hook-Line, der sich unversehens in dein Rückenmark, deinen Unterleib bohrt?
Jens Balzer ist ein Meister dieser Kunst. Er betreibt sie seit Jahren mit hohem Unterhaltungswert, vorwiegend in der Berliner Zeitung und Rolling Stone. Entnervte Leser (die aber nicht aufhören, ihn zu lesen) schmähen seine Berichte gerne mal als „verschwurbelt“ oder scheinintellektuell. Verschwurbelt mag hie und da zutreffen; scheinintellektuell scheint mir verfehlt. Wenn Balzer eins auszeichnet (neben den barocken Gedankengängen) dann ist es sein akademischer Fleiß. Dieser Schreiber hat sich erarbeitet, wovon er spricht. Man muss mit ihm nicht einer Meinung sein (und man ist es oft nicht); aber es lohnt sich immer hinzuhören, was er gerade wieder meint.
In diesem Sommer ist von Balzer ein Buch erschienen, POP. Ein Panorama der Gegenwart. Die 18 Kapitel enthalten viele Zweitverwertungen aus seinen Musikkritiken, zusammengefügt und ergänzt im größeren Bogen eines theoretischen Überbaus. Artikelpartikel werden dabei so elegant in den Gesamtfluss eingefädelt, dass sie außerhalb der treuen Balzer-Leserschaft kaum jemand als Wiederholung wahrnehmen wird.
Berlin: Nabel der (Pop)Welt
Als „Panorama“ konzentriert sich Pop auf die letzten 15 Jahre Hörerleben und Konzerterlebnisse in Berlin; Balzers Homebase, wenn man will. Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt das Buch nicht, mit Ausnahme einer Handvoll japanischer Bands vom Planet Manga enthält Pop ausschließlich Namen aus dem angelsächsischen und deutschsprachigen Raum. Das widerspiegelt (vermute ich) einerseits Balzers Sprachkompetenz, anderseits den Berliner Geschmack, für den er ja schreibt; und natürlich ist Berlin nicht irgendeine Stadt. Wer was ist, spielt hier. Wer was sein will, will hier spielen. Warum in die Ferne schweifen, wenn alles was, Rang und Namen hat, irgendwann vor der eigenen Haustür auftreten wird?

Joanna Newsom: Balzer mag sie.
Als musikinteressierter Laie lese ich Pop mit hohem Genuss und erheblichem Gewinn; am liebsten würde ich während der Lektüre unentwegt Songs und Musiker, mehr noch Musikerinnen googeln. Joanna Newsom! Grimes! Muss ich mir unbedingt anhören. Antony Hegarty und James Blake: die hör ich mir gleich mal wieder an. Visual Kei, mehr was zum Kucken, Sunn O)))) – die habe ich zufällig gerade in Zürich erlebt, da ist mir gleich klar, dass Youtube oder Vimeo kaum hinterherkommen werden – ganz abgesehen davon, dass Balzer auch das beschreibt: Seine Lust an der Darstellung der körperlichen Erfahrung von Konzerten erreicht im Kapitel über brachial entschleunigte Soundwelten einen euphorischen Höhepunkt.
Der Pausenhof der Popkritik
Anregungen, Anregungen! Das macht dann auch die Liebe, nämlich die von Balzer zu seinem Fach. Zu seinem Metier gehört aber auch die Kultur des Dissens, und die mag er ebenfalls. Große Sätze findet er für die Bands und Musikerinnen, die ihn begeistern (oder doch zumindest belustigen). Nicht weniger große Sätze findet er für die, die ihn langweilen. Das Gelangweilt-werden ist in Balzers Universum ein Affront, der ihn zu Höchstform auflaufen lässt.
Zu Beyoncé, Rihanna und vor allem Lady Gaga heißt es zum Beispiel:
Dass sie nicht singen und nicht komponieren können, dass sie kein Charisma und keine Bühnenpräsenz haben, schadet ihrem Erfolg mitnichten.
Streng genommen stimmt an diesem Satz natürlich gar nichts: Denn ganz offensichtlich singen und komponieren die beschriebenen Musikerinnen, eine Präsenz auf der Bühne haben sie auch (sie sind ja da), und das mit dem Charisma kommt bei einigen Leuten anders an. Darum geht es hier aber nicht. Vielmehr kommt an solchen und vielen andern Stellen der fortgesetzte Pausenhof der Popkritik ins Spiel, der für diejenigen, die ihn nicht kennen oder nie ernstnahmen, eine reiche Quelle des Amüsements bietet. Beatles oder Rolling Stones? Ich wusste schon als Jugendliche nicht, warum man sich entscheiden sollte. Für die Kollegen Musiknerds dagegen war das eine Glaubensfrage. Nicht wenige Vertreter der hiesigen Popkritik fanden ihren Anfang in solchen Pausenhof-Fehden. Kaum einer setzt die Kunst der Kabbelei (wenn auch mit anderen Namen, und auf ganz anderem Niveau) so lustvoll fort wie Balzer.
Balzers Fetisch heißt Fischer
Und immerhin: Balzer drischt ausschließlich auf die ganz Großen ein, Rammstein, Bushido, Kanye West, Amy Winehouse, Lou Reed, Sting – you name it, he hates it. Auf den ersten Schmäh folgen allerdings nicht selten scharfsinnige Beobachtungen, denen man (als Nicht-Glaubenskriegerin) gerne nachhängt. Eine (die) Ausnahme in dieser 15-Jahres-Riege von Superstars ist Helene Fischer, die Balzer sich als Fetischobjekt auserkoren hat, eine interessante Wahl, die ihm zweifellos kein anderer Kritiker oder Kritikerin streitig machen wird. Die Figur „Helene Fischer“ trägt bei Balzer viel, am Ende auch das Etikett der „Deutschen Lady Gaga“. Als Laie nimmt man das so hin, genauso wie die verblüffenden Parallelen zwischen Rammsteins Till Lindemann und einer Frau, die gerne singend auf Blechvögeln über ihrem Publikum schwebt.
Miteinander verbunden sind die 18 Kapitel von Pop durch eine Art theoretischen Überbau, der (stark verkürzt) besagt, dass die dominante Position im „Pop“ von den Kerlen zu den Damen übergegangen sei. Der Boden für die Theorie ist reflektierte Selbsterfahrung („was ich in Berlin sah und hörte“), ihr Motor das schon anfangs klar formulierte Verlangen, vom Pop-Bühnengeschehen dominiert, erniedrigt, kleingemacht zu werden. Wer dieses Verlangen nie verspürte, wird auch das Konstrukt mit leisem Zweifel entgegennehmen, mitsamt seiner (impliziten) Ausgangsthese, das Gesamtspektakel der Popwelt richte sich in erster Linie an masochistisch veranlagte Musiknerds.

Jens Balzer
Vom Nachlassen der Potenz
Zumal sich hinter Balzers Nachdenken über „Männer“ und „Frauen“ und „Pop“ ein zweites Beobachtungsfeld abzeichnet: Nämlich dasjenige der Ablösung einer (Macher-)Generation durch eine nächste, die mit anderen technischen Möglichkeiten und einer eigenen Vorstellung von Selbstdarstellung daherkommt. Dieser Themenbereich ist für Theoriekonstrukte weniger geeignet, berichtet er doch vor allem vom natürlichen Lauf der Dinge; nachlassende Potenz auf der einen Seite, die auf der andern auf neue, potente Stimmen, männlich und weiblich, trifft. Doch im Detail ist da viel zu holen: In seinen besten Momenten (und davon gibt es viele) bietet Balzers Pop Einblick in ein bewegtes Panorama innovativer Entwicklungen und Querbefruchtungen über die letzten 15 Jahre, von Neuerungen im Hören und Machen und Performen bis hin zum (möglichen) neuen Selbstverständnis einer nächsten Generation.
Brigitte Helbling
Jens Balzer: Pop. Ein Panorama der Gegenwart. Rowohlt Berlin. Berline 2016. 256 Seiten. 20 Euro.