Sie geht weiter – die Blütenlese im Salzburger Verlag Jung und Jung (die erste finden Sie hier, die zweite hier, die dritte hier). Heute mit dem in diesem Jahr erschienenen zweiten Buch, einem Büchlein, des Franzosen Jean-Pierre Abraham. Von Senta Wagner.
Runter vom Leuchtturm, rauf auf die Inseln
Jahrzehnte nach seinen Exerzitien auf dem bretonischen Leuchtturm Armen („Der Leuchtturm“ – zur CM-Rezension) heißt es für den Exwärter Jean-Pierre Abraham wieder „… schreib mal schön!“ Eine reizvolle Selbsteinladung. Der Ozean ist der gleiche geblieben, die Bretagne und das Klima auch, vielleicht auch die Einsamkeit des Schreibenden. Abraham gondelt für die Dauer eines „flüchtigen Augenblicks“ auf den Glénan-Inseln herum, wovon er im „Weißen Archipel“ berichtet. Vom Turmschreiber zum Inselschreiber.
Die neun in den Atlantik gebröselten Glénan-Inseln samt ihrer zahlreichen Eilande – der Archipel der Glénan – sind vom bretonischen Festland aus bei guter Sicht zu erkennen. Sie sind eine Touristenattraktion und Stützpunkt einer Segelschule. Früher gingen die Menschen dorthin, um vergessen zu werden. Inseln seien was für komische Vögel. Luftaufnahmen zeigen ein weißes Gleißen, viele strahlend helle Sandstrände, eine dezente Vegetation, „Teppiche von winzigen, leuchtenden Blumen“, zerklüftete Topografien. Möglicherweise greift der Titel auch den aufsteigenden weißen Rauch der Tangöfen auf, der sich zu Zeiten dieses Handwerks über die Inselgruppe legte. Das Wasser der Lagune soll das klarste der ganzen Bretagne sein – ihr Tahiti.
Gedehnte Einkehr auf Cigogne
Cigogne ist eine der kleineren Inseln des Archipels, verbaut von einem mächtigen Fort, „um das man rasch herum ist“, aus dem 18. Jahrhundert. Dort hat Abraham seine Unterkunft und schimpft auf einen „nüchternen Mauerring, eine in hiesigen Breiten ungekannte Kälte und Zugluft, schaurig düstere Mannschaftszimmer, …“ Mit versöhnlicheren Worten: „Derzeit liegt ein schönes, silbriges Licht über dem Hof, ich finde es ausnehmend weich.“ Im Sommer ist dort Betrieb: Schiffswache und Bar sind besetzt, ein Garten wird gepflegt, Musik dudelt, Segelschüler kommen und gehen, Inselrituale. Abraham ist kein Unbekannter auf den Glénan, hat dort schon früher länger mit Familie gelebt, jetzt läuft er als Exkollege auf „Durchreise“. So könnte diese auch als Rückkehr oder Einkehr verstanden werden, die im Erzählen ebenso wie in den beschriebenen Inselzeichnungen ihren Ausdruck findet. Wenn nur immer diese Möwenattacken nicht wären. Davon abgesehen passiert nichts Aufregendes und nichts hat wirklich eine Bedeutung. Außer die Zeit vielleicht, die hier als gedehnt erlebt wird.
Auf verblüffend luftige und bisweilen verwirrende Weise stehen Erinnertes und Gegenwärtiges neben wackeligen historischen Informationen. Die Inseln sind schlicht Orte, wo die „Vergangenheit ebenso ungewiss ist wie die Zukunft“. Auf dem Fundament von Abrahams Gemütsspannung aus Unruhe und „leiser Bangigkeit“, seiner glasklaren Beobachtungsgabe und der notorischen Selbstbefragungen und -aufforderungen ist dieser 90-seitige Prosaklecks entstanden, sprachlich glänzend, spröde und griffig. Die Übersetzung von Ingeborg Waldinger ist einfach zu loben, wenngleich mit dem gehäuften „auf etwas vergessen“ oder dem „sich ausgehen“ eher unglückliche Wendungen gewählt wurden. Wie schön zum Schluss zu bekennen, dass in dem Buch ebenso Zauber wie Schauer vorkommen – beste Voraussetzungen von Literatur.
Senta Wagner
Jean-Pierre Abraham: Der weiße Archipel (Fort-Cigogne, 1995). Aus dem Französischen von Ingeborg Waldinger. Salzburg: Jung und Jung Verlag 2012. 94 Seiten.