Geschrieben am 23. August 2008 von für Bücher, Crimemag

Jean-François Vilar: Die Verschwundenen

Wohltuende Wucht

Geschichte, Hitler und Stalin, die Kunst, Europa und das 20. Jahrhundert – Ein Kauftipp vom Krimibuchhändler unseres Vertrauens, Christian Koch (Hammett-Krimis).

Jean-François Vilar, 1947 in Paris geboren, arbeitete nach dem Jura- und Philosophiestudium längere Zeit als Feuilleton-Redakteur der linksradikalen Zeitung „Rouge“. Er ist einer der bedeutenden Vertreter der in Frankreich unter den Labels „polar post-soixante-huitard“ oder „Néopolar“ firmierenden Strömung linker Autoren, die durch den Pariser Mai 1968 politisiert wurden und Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre begannen, Kriminalromane zu schreiben. Die Verschwundenen ist ein Meisterwerk.

Der Pressefotograf Victor Blainville wird entführt und fast drei Jahre lang festgehalten, ohne die Motive seiner Kidnapper zu kennen. Im November 1989 wird er zusammen mit seinem Schicksalsgenossen Alexandre Katz in Paris unvermittelt auf freien Fuß gesetzt. Kurze Zeit später wird Alexandre bei einem Autounfall getötet. Victor glaubt nicht an einen Unfall und versucht, das Geheimnis ihrer gemeinsamen Entführung zu ergründen. Dabei stößt er auf das Tagebuch von Alexandres Vater, dem Trotzkisten Alfred Katz, der im Paris der 30er Jahre engen Kontakt zur surrealistischen Avantgarde um Man Ray und André Breton pflegte. Damals lernte Alfred Katz die exzentrische Mila kennen, und nun, 50 Jahre später, ist es Victor, dem die geheimnisvolle tschechische Journalistin Solveig begegnet.

Wie Jean-François Vilar diese beiden Zeitebenen miteinander verknüpft, ist schlicht meisterlich. So verschieden die beiden Epochen und die jeweiligen Geschehnisse auch sind, Vilar findet viele Gemeinsamkeiten hinsichtlich der politischen Umwälzungen, deren Zeugen seine beiden Protagonisten werden. Ist es 1938 beispielsweise der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich, die Verfolgung und Ermordung unzähliger Trotzkisten in Moskau und anderswo durch Stalin und seine Schergen, sowie die britische und französische Beschwichtigungspolitik gegenüber den Aggressionen Hitlerdeutschlands – so ist es gut 50 Jahre später der Fall der Mauer, die „samtene Revolution“ in der Tschechoslowakei und der anschließende Zerfall des Ostblocks.

Niveau fordert LeserInnen!

Eine authentischere Geschichtsaufbereitung wird man in einem Kriminalroman linker Couleur wohl kaum finden. Die Ausführlichkeit der Schilderung sowohl der Künstlerszene im Paris der 30er Jahre als auch der diversen linken Gruppen und Gruppierungen ist geradezu liebevoll detailversessen, ohne deswegen konstruiert zu wirken.

Allerdings eine Positiv-Warnung: Die Verschwundenen ist ein ungemein anstrengendes Werk. Es fordert den Leser, es hinterlässt Spuren und nötigt zur eigenen Positionierung. Eine derart wohltuende Wucht ist im Genre bedauerlicherweise nur (noch) sehr selten anzutreffen.

Die Verschwundenen ist der fünfte Roman um den Fotografen Victor. Leider sind die in der Chronologie zuvor angesiedelten vier Werke auf Deutsch nicht bzw. nicht mehr lieferbar. Dies ist umso bedauerlicher, als es sich hier um das Werk eines Autoren handelt, der sich vom Einheitsbrei der marktanteilig immer größer werdenden Belanglosigkeiten deutlich abhebt.

In Vilars Roman hoffen die Menschen auf bessere Zeiten. Ich hoffe, dass diesem bedeutenden Roman die ganz breite Aufmerksamkeit zuteil wird, die er verdient.

Christian Koch

Jean-François Vilar: Die Verschwundenen (Nous cheminons entourés de fantômes aux fronts troués, 1993). Roman. Deutsch von Andrea Stephani und Barbara Heber-Schöner. Berlin & Hamburg: Assoziation A 2008.464 Seiten. 24,00 Euro.