Geschrieben am 5. März 2014 von für Bücher, Litmag

Jean Echenoz: 14

Echenoz_24500_MR1.inddAuf einer Blockflöte orgeln

– Jean Echenoz fasst auf 125 Seiten den Ersten Weltkrieg erzählerisch zusammen. Von Wolfram Schütte

Die Zahl „14“ ist der Titel des jüngsten der Romankonzentrate, mit denen der 1947 im provenzalischen Orange geborene französische Erzähler Jean Echenoz bei uns – zuletzt immer in der Übersetzung H. Schmidt-Henkels – bekannt wurde. Es waren kurz gefasste biografische Verdichtungen, deren unterschiedliche „Helden“ der französische Musiker Ravel, der tschechische Langstreckenläufer Zatopek & der serbische Allround-Erfinder Tesla waren. Was dabei biografischen Spuren folgte oder der Fantasie des recherchefreudigen Autors zu verdanken war, blieb im Unklaren & dürfte nur speziellen Kennern der jeweiligen Realfiguren bekannt sein.

Nun aber, zum Jahrhundertjubiläum des Ersten Weltkriegs, hat Echenoz diesen selbst zum Gegenstand eines Romans gemacht, dessen 15 immer etwa gleich lange Kapitel es nur auf 125 kleinformatige Seiten bringen.

Jean Echenoz’ „14“ ist gewissermaßen ein „Roman in Pillenform“ (Manganelli), der erzählerisch-fiktiv ein Ereignis beschwört, dem der in England lebende australische Historiker Christopher Clarke in diesem Jahr die 896 Seiten seines monumentalen Buchs „Die Schlafwandler“ gewidmet hat. Ganz zu schweigen von der Vielzahl literarischer Beschäftigungen, die der Erste Weltkrieg in der Belletristik aller Länder im Laufe der Jahre bereits hinterlassen hatte – und auf deren „Schultern“ folglich ein Roman wie „14“ steht, der ihnen von einem Heutigen nachgeschrieben wurde.

Die Schlafwandler von Christopher ClarkDer Historiker wie der Romancier sind Erzähler, die ihren Stoff aus der Real-Geschichte destillieren & je eigen gliedern, um uns Heutige diese „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts intellektuell & emotional nahezubringen. Während der australische Historiker in jeder Hinsicht weit ausholt, um seine These zu entfalten, wonach sämtliche beteiligten Mächte schlafwandlerisch in den am Ende vierjährigen Weltkrieg mit zig Millionen Toten schlidderten, erzählt der französische Romancier von fünf jungen einander bekannten Männern & einer Frau, die von zweien von ihnen umworben wird & von einem der beiden ein Kind erwartet. Wahrscheinlich war der blasierte Charles der Vater, der – unwissend davon – im Krieg fallen wird; Anthime aber, der Freund, wird zwar seinen rechten Arm im Krieg verlieren, aber überleben & am Ende mit Blanche, der einzigen Tochter der Familie Borne, den Besitzern der Schuhfabrik Borne-Sèze, in Paris ein weiteres Kind zeugen, das sie, nach dem gefallenen Freund, Charles nennen.

Echenoz hat ganz offensichtlich zum Ziel, ein repräsentatives Bild des Krieges aus der Sicht der von ihm betroffenen (jungen) Menschen zu entwerfen. Sein schmaler Roman wählt die (journalistisch recherchierte) Berichtsform eines Features über die von ihm wie reale Personen behandelten Figuren. Er dreht seine bisherige Methode, empirisch existente Personen (wie Ravel oder Zatopek) auf seinem literarischen Darstellungsweg in fiktive zu verwandeln, diesmal um, indem er fiktive Personen derart in Zeit & Ort einbettet & beschwört, als handele es sich um empirische Repräsentanten, an deren Leben & Tod die unterschiedlichen Varianten der kollektiven Kriegsschicksale darstellbar sind, die der Erste Weltkrieg ihnen eingezeichnet hat.

Mit einem vital-bildkräftigen Idyll lässt der Autor „14“ beginnen – ohne jedoch das Jahr zu erwähnen, dessen verkürzte Zahl der Titel ist. Seine Arbeit erlaubt es dem zwanzigjährigen Angestellten Anthime nach dem Mittagessen am ersten Samstag in der „prallen Augustsonne“ mit seinem Fahrrad, auf dem er „mit einem Gummispanner ein voluminöses Buch befestigt“ hatte, einen Ausflug in der hügeligen Vendée zu machen. Während er von einer Anhöhe weit ins Land mit seinen friedlich hingebreiteten „Dörfern, Feldern und Weiden“ blickt, erfahren wir sowohl wie er zu seinem Fahrrad gekommen ist & um welche Marke es sich handelt, als auch, dass „zwanzig Kilometer westlich der Atlantik atmet“, den er bereits ein paar Mal mit seinen Freunden befahren hat. Anthime versteht zwar nichts vom Angeln, übernahm aber bei der Rückkehr am Kai es gerne, „die Makrelen, Wittlinge, Schollen, Butte und andere Plattfische“ zu zählen & zu sortieren.

Es ist nicht die Prosa eines Romanciers, der einen historischen Roman schreibt, sondern die eines (journalistischen) Rechercheurs, der sich um den Anschein & die Anmutung authentischer Vertrautheit mit Personen, Gegenständen & lokalem Ambiente bemüht. Die Fahrradmarke & dass er es von einem „Gicht geplagten Vikar“ gekauft hat, sind nämlich weder für die unverkennbar einem Landschaftsbild „malerisch“ nachempfundene Eingangsszene noch für die Charakterisierung der Figur Anthime von logistisch-ästhetischem Belang. Die erzählerische Erwähnung des verborgenen Meers jenseits der „filmisch“ (wie von einer Kameraeinstellung tiefenscharf erfassten) Landschaft & Anthimes Tätigkeiten im Hafen könnten dagegen sehr wohl die Funktion haben, ihn uns als hilfsbereiten, zupackenden, freundlichen Mann vorzustellen. Dass er auf seinen sommerlichen Fahrradausflug ein Buch mitnimmt, wirft auch ein Licht auf seine Person; dass uns der Erzähler jedoch nicht sagt, worum es sich bei dem Buch handelt, ist das erste Anzeichen seines spielerisch-ironischen Umgangs mit seinem Stoff wie auch mit uns Lesern.

Victor_Hugo_1793Später fällt das Buch, ohne dass es Anthime bemerkt, vom Fahrrad; aber der Erzähler bemerkt es & behauptet etwas vollmundig bzw. „poetisch“, dass es „für immer und ewig allein am Straßenrand liegen blieb“, gewissermaßen „auf dem Bauch, auf der ersten Seite eines mit Aures habet, et non audit überschriebenen Kapitels“.

Ein literarisch gebildeter Franzose wüsste wahrscheinlich durch diesen Wink auf Anhieb, welches Buch Anthime bei sich führte. Unsereins erfährt über Wikipedia, dass es sich um den letzten Roman Victor Hugos handelt, in dessen 4. Kapitel ein Unterkapitel mit diesem lateinischen Satz („Er hat Ohren & hört aber nicht“) überschrieben ist.

Victor Hugos umfänglicher Roman spielt nicht nur auch in der Vendée, deren historischer Aufstand (1793‒96) gegen die Erste Republik mit einem Genozid der Revolutionsarmee an den aufmüpfigen Bretonen beendet wurde, sondern Hugos Romantitel („1793“) besteht wie Echenoz’ Buch auch nur aus (Jahres-)Zahlen. Der Gegenwartsautor hat sie durch Reduktion hintergründig gemacht, wie ja auch sein Roman eher dessen Extrakt gleicht.

Jedoch; nicht genug mit diesen symbolischen Anspielungen, welche den lateinischen Spruch metaphorisch sich auch auf die Unbelehrbarkeit der Menschen beziehen lassen, die sich erneut in den kriegerischen Mord & Totschlag begeben. Echenoz hat noch mehr von seinem großen literarischen Vorläufer übernommen: nämlich ein visuelles Motiv, für dessen Gebrauch ich ihn eigentlich rühmen wollte, weil ich nicht ahnte, dass es aber schon Hugo im 4. Kapitel „erfunden“ hatte.

Es geht um Anthimes Wahrnehmung eines irritierenden Phänomens: Auf der Spitze jedes Glockenturms begann eine regelmäßige Bewegung, die einem Blinken oder „Augenzwinkern“ glich – wie „von ein paar Unbekannten aus der Ferne an ihn gerichtet“. Als der starke Wind jäh abbricht, der in diesen Augenblicken von See her ohrenbetäubend gedrängt hatte, hört Anthime plötzlich das gleichlautende Läuten aller Kirchenglocken, deren Bewegungen er zuvor nur gesehen hatte. Und nun ahnt er, dass sie die Mobilmachung Frankreichs einläuten (wie einst in Hugos „1793“ den Aufstand der Vendée gegen die Revolutionäre in Paris).

Jean Echenoz’ Mehrfachcodierung dieser Szene erinnert an jene „Fiorituren & Pralltriller“, deren sich Arno Schmidt für seine Erzählung „Caliban über Setebos“ rühmte. Aber Schmidts Prosa hatte polyphone lautmalerisch-phonetische Verzierungen zum Ziel; Echenoz jedoch fordert den Leser heraus, sich auf seinen Victor-Hugo-Verweis einzulassen, womit sowohl der Text an historischer Tiefe gewinnt, wie auch die schriftstellerische Arbeit des Autors als bewusste Zitat-Montage sich zu erkennen gibt, gewissermaßen als angedeutete Fußnote.

Remarque_Im_Westen_nichts_Neues_1929Sicher: Man kann sowohl Schmidts als auch Echenoz’ Erzählung ohne solche inhärente Abschweifungen & gewissermaßen „oberflächlich“ oder „naiv“ lesen. Gleichwohl provoziert Schmidts phonetische Schreibweise & Echenoz’ ironischer Umgang mit seinen Figuren & deren Erfahrungen im Krieg beim Lesen ein assoziatives Amüsement, das sich ganz & gar der von den Autoren jeweils gewählten literarischen Form verdankt. Im Falle von Echenoz’ „14“ muss man die souveräne Vielfältigkeit & den sinnlichen Detaillismus evokativer Darstellungsmittel bewundern. Mit beiden gelingt es dem Nachgeborenen, für seinen kleinen Historischen Roman sowohl eine komplexe & stringente Handlung aufzubauen & einen als anteilnehmenden Leser so gut zu fesseln wie es z. B. mit ihren autobiografischen Romanen E. M. Remarque („Im Westen nichts Neues“) oder H. Barbeuf („Le Feu“) in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gelungen war.

Zugleich aber ist diese narrative Beschwörung des Ersten Weltkriegs sowohl als Reportage wie als literarischer Slapstick- & Splatter-Film auch noch ein verdeckter Diskurs über Absurdität, Grausamkeit & Komik des Krieges, betrachtet aus einer satirisch-melancholischen Perspektive. Mehrfach verdichtet der Autor seinen Stoff zu brillanten thematisch zentrierten Kapiteln: wenn Charles als einer der ersten „Männer in ihren fliegenden Kisten“ in den Tod stürzt; wenn Anthime seinen Arm verliert & ihm seine Kameraden dazu gratulieren, weil er damit dem drohenden Tod an der Front entkommt; wenn einer seiner Freunde vom Frühling zur „Entfernung von der Truppe“ ahnungslos verführt & damit, aufgegriffen, als vermeintlich Fahnenflüchtiger umstandslos füsiliert wird. Zweimal aber löst sich der Erzähler ganz von seinen Figuren & beschreibt den Krieg der Soldaten gegen ihre Hauptfeinde: Läuse & Ratten; und das großartigste Kapitel seines einzigartigen Romans widmet Jean Echenoz dem herzzerreißenden Schicksal der von den Menschen in ihren idiotischen Krieg verwickelten Tiere – ob es nun Hunde, Pferde oder Hasen sind, die zwischen den Gräben & Linien umherirren, bis sie zu unschuldigen Opfern werden.

Jean Echenoz ist hier etwas schier Unglaubliches gelungen. Wäre er ein Musiker, könnte man metaphorisch sagen: Er versteht es, auf einer Blockflöte zu orgeln.

Von Wolfram Schütte

Jean Echenoz: 14. Roman. Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel. C. Hanser-Verlag, München 2014. 125 Seiten, 14.90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Jean Echenoz bei CulturMag.

Tags : , , ,