Der zerplatzte Mythos
–In seinen Romanen und Essays wie „Die Soldaten von Salamis“ oder „Anatomie eines Augenblicks“ setzt sich Javier Cercas mit der von der Franko-Diktatur und Putschversuchen gezeichneten jüngeren Vergangenheit seines Heimatlandes Spanien auseinander. In „Outlaws“ zeichnet er nun ein Bild der spanischen Gesellschaft ab den späten Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts. Von Karsten Herrmann
Franko ist zum Start der Erzählung schon drei Jahre tot, aber sein düsterer Schatten hängt noch immer über dem Land und der Schauplatz Girona ist „ein düsteres Kaff fest im Griff der Kirche“. Die Stadt durchzieht eine Grenze, auf deren einer Seite die „Charnegos“, die Zigeuner, Zuwanderer, Obdachlose, Gauner und Prostituierte leben, während auf der anderen Seite die Mittel- und Oberschicht versammelt ist. Hier lebt der sechszehnjährige Ignacio, Sohn eines Beamten, der eine „Brillenschlange“ und Mobbing-Opfer in der Schule ist. In einem Spielsalon lernt er die charismatischen und verführerischen Charnegos Zarco und Tere kennen, die ihr Leben durch Gaunereien und Diebstähle bestreiten. Er übertritt die Grenze seines Viertels und sieht, „dass es jenseits, am anderen Flussufer, eine Welt gab, die mit der, die ich kannte, nichts zu tun hatte.“
Der Verlierer Ignacio flüchtet vor seinen traumatischen Mobbing-Erfahrungen und wird in die Bande von Zarco aufgenommen, wo er mit seinem „Braver Schüler“-Aussehen als idealer Lockvogel und als Ablenkung für Einbrüche und Raubzüge dient. Das leicht erbeutete Geld wird sofort in Alkohol, Tabletten, Drogen und Frauen in den Bars und Bordellen des Charnego-Viertels umgesetzt. Schnell steigert sich die Spirale der Kriminalität und schließlich geht es um bewaffnete Banküberfälle. Dann wird die Bande verraten, Zarco verhaftet und wie durch ein Wunder wird Ignacio verschont. Im Knast wird Zarco nicht zuletzt durch spektakuläre Ausbrüche und eine ganze Filmreihe über ihn zur lebenden Legende.
Derweil kehrt Ignacio in die Spur des bürgerlichen Lebens zurück, studiert Jura und wird ein erfolgreicher Anwalt. Jahre später steht Tere vor seiner Tür und bittet ihn um Hilfe, um Zarco aus dem Gefängnis zu bekommen. Er startet eine Medien-Kampagne, um Zarco als Exempel für eine erfolgreiche Resozialisierung hochzustilisieren und fällt erneut in den Bann von Tere.
Javier Cercas hat sein Buch in Form von Interviews konzipiert, in denen Ignacio und andere Protagonisten wie Polizisten oder Gefängniswärter aus verschiedenen Perspektiven Zarcos Bande in den Blick nehmen, die zum Fanal für eine weit verbreitete Jugend- und Bandenkriminalität im Spanien der 80er Jahre wurde. Er zeigt dabei einen abgrundtiefen sozialen Riss in der spanischen Gesellschaft auf und gibt zugleich ein Exempel für die eine gefährliche Eigendynamik entfaltende Macht von Medienereignissen. Mit psychologischem Feingespür rekonstruiert Cercas aber auch die sich wandelnden Rollen und die Rollenkonflikte zwischen den Hauptprotagonisten sowie das lange im Dunkeln bleibende Verhältnis von Zarco und Tere.
Am Ende ist der Mythos von Zarco, dessen Zustandekommen für den Leser allerdings von Anfang an etwas schwer nachzuvollziehen ist, entzaubert und die schäbige Wirklichkeit zeigt ihr Gesicht. Statt Helden stehen nur noch Verlierer auf dem Platz.
Karsten Herrmann
Javier Cercas: Outlaw (Las leyes de la frontera, 2012). Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. S. Fischer Verlag 2014. 508 Seiten. 24,99 Euro.