Geschrieben am 13. Februar 2006 von für Bücher, Litmag

Jan Costin Wagner: Schattentag

Nur geträumt?

Der gefeierte Jungautor Jan Costin Wagner hat bereits mit seinen beiden Kriminalromanen „Nachtfahrt“ und „Eismond“ bewiesen, dass er mit knappen Worten differenzierte und eindrucksvolle Charaktere zeichnen kann. In „Schattentag“ wagt er sich mit ebendiesem Stil an die verwirrende Gedanken- und Gefühlswelt eines blinden Familienvaters.

Wenn das Augenlicht verloren geht, gewinnen Erinnerungen an Bedeutung. Die Gegenwart wird nur noch im Schattenriss, in Geräuschen und Berührungen wahrgenommen. Und immer wieder mit Bildern aus der Vergangenheit abgeglichen, bis auch diese irgendwann verblassen und einer neuen Vorstellungswelt weichen. Auf diesem Grat zwischen der Konservierung und Auslöschung der eigenen Identität balanciert Jan Costin Wagners langsam dahindämmernder Held: Ein beruflich erfolgreicher und glücklich verheirateter Familienvater, der ohne erkennbare Vorzeichen von heute auf morgen erblindet.

Sprachlos und bildgewaltig

Wir lernen ihn indessen schon als Blinden kennen. Als hilflosen und emotional abhängigen Mann, der die Abgeschiedenheit einer Insel sucht, um sich seiner wahren Empfindungen und Erlebnisse bewusst zu werden. Er erinnert sich in kurzen unvollendeten Szenen immer wieder an seine Jugend, seine Frau Vera und seine Tochter Sandra. Diese wehmütigen Rückblicke werden von einer Gegenwart überlagert, die seltsam sprachlos bleibt. Seine neue Lebensgefährtin Mara und er messen Gesprächen keine existenzielle Bedeutung mehr bei. Ihre Dialoge kreisen fast nur noch um die bildgewaltige Beschreibung der für ihn unsichtbar gewordenen Außenwelt. In seinem Gedanken- und Gefühlschaos spielt das reale Geschehen denn auch nur noch eine transzendente Rolle. Die rätselhaften Todesfälle auf der Insel, mit denen er von der Polizei in Verbindung gebracht wird, schüren nur seine Verzweiflung und wecken Fluchtinstinkte. Schutz gewährt ihm die sphinxähnliche Mara. Nur sie schenkt ihm offenbar „das Gefühl, einzuschlafen in dem Gefühl, nicht mehr aufzuwachen.“ Wagner verleiht der Zerbrochenheit und den Sehnsüchten seines Helden durch radikal verkürzende, aber zugleich ausdrucksvolle Sätze eine enorme Anschaulichkeit. Die karge, ins verwirrende Nichts zielende Handlung deckt sich schließlich auch mit dem unergründlichen Seelenzustand eines Protagonisten, der mutlos nach Erlösung sucht. Im Gegensatz zu ihm wird sie dem Leser nicht zuteil. Er muss weiter rätseln.

Jörg von Bilavsky

Jan Costin Wagner: Schattentag. Eichborn Berlin. 2005. Gebunden. 192 S, 17,90 Euro. ISBN 3-82180-756-3