Geschrieben am 4. Februar 2015 von für Bücher, Litmag

Iwan Tkatsch alias Alex Boiko: Erinnerungen eines ukrainischen Zwangsarbeiters

tkatsch_erinnerungen_cover„Gut, dass Deutschland nach 10 Uhr abends bis zum Morgen schläft“.

Die Erinnerungen des ukrainischen Zwangsarbeiters Iwan Tkatsch liegen jetzt in deutscher Übersetzung vor. Sie sind damit mehr als nur intergenerationaler Samisdat. Von Bruno Arich-Gerz.

Ungleich verteilt ist zwischen dem Westen und dem Osten Europas Vieles. Das Maß und der Grad an Demokratie zum Beispiel, das an herrschendem Turbokapitalismus oder das an authentisch empfundener Zugehörigkeit oder Fremdeln mit Kerneuropa, vulgo der EU. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der in Osteuropa Großer Vaterländischer Krieg hieß und bisweilen noch heißt, gibt es auf einer anderen und auf den ersten Blick eher sekundären Ebene eine weitere Ungleichverteilung: die der Erinnerungstexte, Memoiren und autobiografischen Zeugnisse über die selbst erlebte und erlittene nationalsozialistische Gewaltherrschaft im Deutschen Reich, die nicht selten mit Zwangsarbeit und in vielen Fällen mit KZ-Haft einherging. Französische und belgische, niederländische und auch deutsche Opfer dieser Gewaltherrschaft haben weitaus häufiger ihre Erinnerungen verfasst und veröffentlicht als die Überlebenden von Zwangsarbeit und Faschismus aus dem heutigen Russland oder der Ukraine. Ein wesentlicher Grund für diese Diskrepanz lag und liegt darin, dass viele osteuropäische Zwangsarbeiter nach ihrer Befreiung aus den Nazi-Fängen in Stalins Sowjetunion als Kollaborateure der Deutschen verfemt und verhaftet wurden – ihre Erlebnisse fanden in diesem Klima weder Gehör noch Anerkennung. Die Folge: viele der Überlebenden schwiegen sich jahrzehntelang aus. Sie behielten ihre nicht selten traumatischen Erinnerungen für sich, statt sie im Familienkreis zu offenbaren oder als Samisdat festzuhalten: als hektografierte Manuskripte oder Typoskripte, die seit den 1950er Jahren unterhalb des Radars der Staatsmacht zirkulierten.

Bei den in drei Schulheften festgehaltenen Erinnerungen des ukrainischen Zwangsarbeiters Iwan Tkatsch handelt es sich um eine Art privaten Samisdat, um Memoiren für das Familiengedächtnis. Tkatsch fertigte die handschriftlichen Aufzeichnungen 1985, also noch vor Glasnost und Perestroika, für seine Tochter Olga an. Über Umwege, Zufälle und einen aufmerksamen Mittelsmann gelangten sie an den Leiter der Gedenkhalle Oberhausen, Clemens Heinrichs, der sie übersetzen ließ und nun als zweiten Band einer Schriftenreihe seines Hauses herausgegeben hat: zusammen mit einführenden Texten der Tochter des 1987 verstorbenen Iwan Tkatschs, einem hilfreichen Fußnotenapparat, einer auf Russisch gehaltenen Synopse am Ende, einem Nachwort sowie ausgewählten Bildzeugnissen aus Familienfotoalben und diversen Archiven des Ruhrgebiets und Westfalens.

Iwan_Tkatsch_mit_Schwester_Tatjana_vor_dem_KriegVon Bockum-Hövel bis Lahde, von Fremdarbeit zur Zwangsarbeit

Dass es Archive aus diesen Gegenden sind, hat mit den Stationen und Schauplätzen zu tun, an denen Tkatsch sich als aus der besetzten Ukraine angeworbener (und bald desillusionierter) Fremdarbeiter verdingt. Den studierten Bergbauingenieur verschlägt es zunächst auf die Zeche „Radbod“ in Bockum-Hövel. „Ich merke bald, dass ich es hier nicht aushalte – wenn ich nicht flüchte, komme ich hier ums Leben“, schildert er die Umstände dort. An Pfingsten 1943 gelingt ihm die Flucht in Richtung Ostwestfalen: nachts, im Schutz der Dunkelheit und unter Ausnutzung des Umstands, „dass Deutschland nach 10 Uhr abends bis zum Morgen schläft“. Der Wiederverhaftung entkommt er nicht, trotz der geistesgegenwärtigen Umbenennung in Oleks Boiko und einer Chuzpe, die angesichts der drakonischen Strafen, die ihm für seine Tricksereien drohen, verblüfft. Der Bericht streift an diesen Stellen bisweilen das Pikareske; auch die Verbringung in die Bielefelder Bentelerwerke und der damit einhergehende, endgültige Übergang vom freiwillig ins Reich gekommenen Ost- bzw. Fremdarbeiter zum Gefangenen des nationalsozialistischen Zwangsarbeitssystems ändert nichts an der Schläue und Gerissenheit, mit der er sich durchschlägt. Genauso bemerkenswert sind die Schilderungen der deutschen Vorarbeiter in den Werkstätten, der Zivilisten oder des „Soldaten der Hitlerarmee“ (51), die Tkatsch mehr als einmal vom Stereotyp des fanatischen Deutschen abhebt:

Dann stütze ich den Kopf auf die Hände, lehne mich an den Werkzeugschrank und ergebe mich einem süßen Schlaf.
Einmal bemerkt [Werkstattleiter] Fuchs das aber und, als ich in den schönsten Träumen liege, tritt er an mich heran, stellt sich zwischen mich und die Maschine und weckt mich. Als ich aufwache, steht Fuchs direkt vor mir. Ich will den Quervorschub wieder starten, aber Fuchs versperrt mir den Weg.
Ich stehe da und erwarte eine Ohrfeige, aber Fuchs schüttelt nur den Kopf und geht fort.
‚Wenn mich Fuchs nicht geschlagen hat‘, denke ich mir, ‚dann kommt es schlimmer – er wird das bei der Gestapo melden‘. Aber auch das tut er nicht, es geht schließlich alles ohne Folgen ab.

Die Sabotage der Glühbirnen, die während der Nachtschicht die Fabrik ausleuchten, geht weniger glimpflich ab: Tkatsch wird „ein Konzentrationslager“ verbracht, das vom Anmerkungsapparat mit hoher Wahrscheinlichkeit als das Arbeitserziehungslager Lahde identifiziert wird. Die Darstellungen und Topoi der Lagerhaft beginnen denjenigen zu ähneln, die man aus der umfangreichen KZ-Autobiografik kennt: „Jetzt gibt es mich nicht mehr“, heißt es etwa, „ich bin, so wie alle, die hier im Lager eingesperrt sind, nur noch eine Nummer“. Es gibt Hinrichtungen auf dem Appellplatz, denen die Häftlinge beiwohnen müssen, und auch das Stereotyp von der unterschiedlichen Konstitution der verschiedenen Häftlingsgruppen wird, nach Herkunftsländern sortiert, wiederholt: „Von allen Nationalitäten hier sind die ausdauerndsten und zähesten die Russen und die Polen, die schwächsten sind die Holländer, gefolgt von den Belgiern und ganz am Schluss – die Franzosen“.

Iwan_Tkatsch_als_StudentWest-Östliches zum Kriegsende

Tkatschs Entlassung aus dem Lager geschieht überraschend, und katapultiert ihn in die Atmosphäre des nahenden Kriegsendes, in der Bauernfamilien auf ihren Höfen ihn aus Berechnung gut behandeln, ehe er gegen die Richtung der Flüchtlingsströme von Reichsdeutschen die vorigen Stationen seines Fremd- und Zwangsarbeiterdaseins in Deutschland bis zur inzwischen von Luftangriffen zerstörten Zeche „Radbod“ abläuft und schließlich von der Vorhut der heranrückenden US-amerikanischen Truppen entdeckt wird: „So haben wir an diesem Tag den Machtwechsel erlebt – unter den Deutschen haben wir gefrühstückt, das Abendbrot bekommen wir schon unter den Amerikanern“. Mit dem Fahrrad geht es weiter, zunächst in Richtung Frankreich, von wo angeblich Transporte nach Odessa abgehen, ehe ihm in Krefeld mitgeteilt wird, dass der Weg zurück in die Ukraine über Land der schnellere sei und durch die sowjetisch besetzten Gebiete östlich der Elbe führt: Iwan Tkatsch hat seine Repatriierung nicht nur im Sinn, sondern nimmt sie selbst in die Hand. Dem Groll gegen die Nation seiner Peiniger verleiht er dabei – und danach, in der Reflexion –deutlich Ausdruck, bemüht sich aber um Differenzierung:

Ja, es gibt viele Deutsche, die der gesamten Menschheit viel Unheil zugefügt haben. Aber nicht alle haben das getan! Es gibt auch gute Deutsche. Wenn ich mir nun vornehme, dass ich jetzt einen Deutschen umbringe – ja, genau dann stoße ich auf einen guten.

Ausgewogen zeigt sich Tkatsch auch in anderen Hinsichten. An den US-Amerikanern lässt er einerseits gelten, dass unter ihrer Besatzungsherrschaft die befreiten Heimkehrer keinen Hunger zu leiden hatten. Andererseits unterstellt er ihnen mit einem Gran Kalter-Kriegs-Rhetorik taktisches Kalkül, wenn sie Misshandlungen deutscher Zivilisten durch Rotarmisten zuließen: „den Deutschen soll von den sowjetischen Menschen der Eindruck bleiben: Das sind wilde, blutrünstige Asiaten“. Und den Sonderfall eines Alliierten-spezifischen Clash of Cultures nimmt er in Magdeburg wahr, wo sich entlang der Elbe die westliche Besatzungszone von der sowjetischen abgrenzte: „Das Aussehen unserer Soldaten lässt sich zweifelsohne nicht mit dem der amerikanischen Soldaten vergleichen. […] Während der amerikanische Soldat Angriffe vielleicht nie erlebt hat, musste unser Soldat immer wieder in den Kampf Mann gegen Mann. Ausgezehrt und erschöpft sieht unser Soldat aus“. Auch Tkatsch selbst wird umgehend in die Rote Armee verpflichtet, als er den Fluss überquert – in Fernost, an der sowjetisch-japanischen Front, ist der Krieg schließlich noch nicht zu Ende. Ein Vorgeschmack auf die Behandlung als ehemaliger ukrainischer Zwangsarbeiter beim Kriegsfeind ist das: am Ende wird er zum Latrinenputzen in einer Kaserne in Weißrussland verdonnert. Dennoch enden die Schilderungen auf einer besonderen, irgendwie schelmischen Note – und bleiben sich so bis zur letzten Zeile treu: „Wir sind dann zwei Stunden mit dem Toilettenreinigen beschäftigt, den Rest der Zeit machen wir, was wir wollen“.

Abb 1 Iwan_Tkatsch_mit_Familie_1955

Fazit

Die Aufzeichnungen Iwan Tkatschs sind mehr als nur intergenerationaler Samisdat: also die Aufzeichnungen eines ukrainischen Fremd- und zunehmend Zwangsarbeiters im nationalsozialistischen Ruhrgebiet und Westfalen, die angefertigt werden, um wenigstens als Adresse an die eigene Tochter das festzuhalten, worüber sich weder im Stalinismus noch unter Chruschtschow oder Breschnew sprechen ließ. Einige bislang kaum beachtete Facetten treten in diesem Memorialtext hervor, die erkennbar nicht mehr nur und ausschließlich persönlich relevant sind, und die das Nachwort des Herausgebers explizit hervorhebt. Es gab, folgt man Tkatsch, eine durchaus Befreier-kritische Perspektive auf die Zeit ‚um 1945‘ im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland. Es gab tatsächlich wahrgenommene „Handlungsoptionen von Individuen in der radikal vergemeinschafteten, d.h. durch Indoktrination geprägten Gesellschaft des Deutschen Reiches“, die dem Rückblickenden sein Überleben vor vierzig Jahren (mit) ermöglichten und letzten Endes die Niederschrift seiner Erinnerungen (mit) bedingen. Vor allem aber gibt es mit Iwan Tkatschs ins Deutsche übersetztem und damit zugleich aus dem privat-familiären ins Licht der Öffentlichkeit gerückten „biografischem Ego-Dokument“ einen unerwarteten Zuwachs in einem bisher unterversorgten Bereich der erinnerungsliterarischen Aufarbeitung nationalsozialistischer Gewaltherrschaft.

Es wäre wünschenswert, wenn weitere Dokumente dieser Art den Weg vom privaten zum veröffentlichten Samisdat gehen würden. Die Oberhausener Schriftenreihe hat sich hierfür etabliert als eine sehr empfehlenswerte Plattform.

Bruno Arich-Gerz

Clemens Heinrichs (Hrsg.): Iwan Tkatsch alias Alex Boiko. Erinnerungen eines ukrainischen Zwangsarbeiters. (Fokus Stadtgesellschaft. Studien der Gedenkhalle Oberhausen, Band 2). Oberhausen: Verlag Karl Maria Laufen 2015. 164 Seiten. 22,00 Euro. ISBN: 978-3-87468-320-3.

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