Geschrieben am 7. April 2008 von für Bücher, Litmag

Iso Camartin: Die Geschichten des Herrn Casparis

Bruder Leichtfuss

Iso Camartin und Herr Casparis erkunden die beste aller möglichen Welten

Schade, dass bestimmt Namen und Begriffe schon seit langer Zeit schlecht ‚besetzt’ sind. Sagen wir von jemanden zum Beispiel er sei ein „Bruder Leichtfuß“, dann wollen wir ihm nichts Gutes. Im Lexikon finden wir als Synonyme für den Leichtfuss’ etwa ‚Haderlump, Hallodri, Libertin, Taugenichts, Tunichtgut, Windbeutel, Windhund, windiger Bursche’, also allesamt keine besonders schmeichelden Attribute. Es wäre eine eigene sprachgeschichtliche Untersuchung wert, warum alles leicht Daherkommende und Dahinschwebende im Deutschen eine fast immer so abwertende Bedeutung hat und das ‚Schwere’ und ‚Dunkle’ so geschätzt wird. Man muß nur die Essais des deutsch schreibenden, aber in der räteromanischen Sprache aufgewachsenen Iso Camartin lesen, um in ihm einen ‚Leichtfuß’ zu entdecken, dessen Bruder man sehr gerne sein möchte. Und jetzt hat Camartin sich auch noch ein Alter Ego erfunden, hinter dem versteckt er manchmal ‚leicht’(!) blinzelnd auf die Welt schaut.
In siebzehn Kapiteln wird uns ein gewisser Herr Casparis vorgestellt, der sich von der Düsternis und der Zerstörung der Welt nicht seine Leichtigkeit, vor allem nicht sein Ur-Vertrauen in die rettende Kraft der Kunst nehmen läßt. Von der Freiheit träumt er, entwirft einen hinreisenden Liebesbrief an eine verehrte Sängerin, imaginiert sich eine Zwillingsschwester oder er wünscht, einmal ein Virtuose zu sein. Zu seinem Schutzpatron erklärt Herr Casparis an einer Stelle seiner Weltbetrachtungen den Don Quixote. „Dieser Ritter der traurigen Gestalt war für ihn der beste Beweis, dass man sich nicht ausliefern darf an die Welt, wie sie nun einmal ist, sondern sich fest auf eine Welt einzurichten hat, wie sie sein sollte und zu sein hätte.“ Herr Casparis will uns überzeugen in dieser ‚besten aller möglichen Welten’, zu bleiben, aber auch das Träumen über mögliche andere Welten, nicht zu vegessen.

Durch das immer mehr mit gruseligen Bauten zersiedelte Engadin, der Heimat des Iso Camartin fahrend, präsentiert uns Herr Casparis sein Credo ‚dem Bösen in der Welt’ gewalt- aber auf keinen Fall phantasiefrei zu widerstehen: „ Schlicht und einfach dadurch, dass man diesen zermalmenden Klötzen in ihrer erbarmungslosen Gedankenlosigkeit die Schönheit eines Bildes, eines Gedichts, einer Skulptur oder einer Musik entgegenhielt.“ Und als ein Beispiel dieses ästetischen Überlebenswiderstands stellt uns Herr Casparis dann über mehrere Seiten hinweg die Einspielung der Bachschen Solo-Sonaten durch Gideon Krämer vor. Am Schluss dieser musikalischen Empfehlung des Herrn Casparis haben wir die dunkle Welt da draussen im und ausserhalb des Engadin nicht vergessen. Wir haben aber eine Lektion erhalten über das widerständige Potential der Kunst, das uns überleben läßt in dieser Welt und träumen läßt von einer anderen, in der wir vielleicht ‚heimischer’ werden koennen.

Heimat ‚in progress’

Das im Umfang längste Kapitel ist der Heimatsuche des Herrn Casparis gewidmet, in dem Camartin auszuloten versucht, wie das Wort ‚Heimat’ jenseits von schweizer Bergkitsch und der in Deutschland von dem Nazi-Getümele tief verkrusteten Heimat-Begriff vielleicht wiederzugewinnen sei. Vielleicht sollten wir uns davon verabschieden, ‚Heimat’ genau definieren zu wollen und die Vaghei und Vieldeutigkeit des Begriffs einfach zu akzeptieren. Was uns bleibt ist vielleicht nur so etwas wie eine Heimat ‚in progress’, auf die hin man lebt und sich abstrampelt, die man aber nur in der Zeit, nicht jedoch in einem Raum findet“.
Eine Sekunde lang Heimat! Und schon ist es wieder vorbei….Man bleibt stecken, wenn man über Heimat nachdenkt. Oder man dreht sich im Kreis. Dabei ist es eine lebenslang nicht abschließend zu klärende Frage. Vielleicht ist eine gute Heimat jenes Land, wo die Wegweiser, die man findet, und die Ratschläge, die man hört, nicht ins Abseits und nicht in die Irre führen.“ Vielleicht….’Heimat’, so koennte man nach der Lektüre dieses Buches von Iso Camartin aber auch formulieren, kann es nur dort geben, wo ein Herr Casparis als Gast jederzeit willkommen ist, weil wir ohne seine klugen, lehrreichen, aber niemals belehrenden Plädoyers für das Überlebensmittel Kunst einfach von der Schwere und Dunkelheit der bösen Welt um uns herum erschlagen würden.
Casparis, diesen von Iso Camartin in die literarische Welt gesetzten ‚Bruder Leichtfuss’ möchte man immer in seiner Nähe wissen. Man wäre dann niemals allein, auch wenn man allein ist.

Carl Wilhelm Macke

Iso Camartin: Die Geschichten des Herrn Casparis. C.H. Beck-Verlag 2008. Gebunden. 271 Seiten. 19,90 Euro.