Geschrieben am 22. April 2004 von für Bücher, Litmag

Irvine Welsh: Klebstoff

Vital, vielstimmig und laut

„Trainspotting“-Autor Irvine Welsh entwirft das Gesellschaftspanorama eines schottischen Vorstadtghettos.

Wer den schottischen Schriftsteller Irvine Welsh schon einmal live erlebt hat, der weiß: dieser kräftige, glatzköpfige Mann mit dem verschmitzten Grinsen ist kein Autor, der Bücher schreibt, um Botschaften zu verbreiten oder sich in Milieus reinrecherchiert, um gesellschaftspolitische Thesen zu illustrieren. Dieser Mann schreibt, um zu schreiben, aus Leidenschaft, um in seinen Texten zu leben und sein Leben in Sprache zu fassen. Wenn er vorliest, taucht er in seine Texte ein, so tief, dass er mit seinen Helden verschmilzt: Er imitiert Stimmen, moduliert, flüstert, schreit, heult, kreischt, wechselt die Rhythmen, Tönungen, spielt, gestikuliert. Wenn seine Figuren Luftgitarre spielen, tut er es ihnen nach. Ebenso das Kopfschütteln, Küssen, Schläge-Austeilen, Fluchen – mit unbändiger Energie.

Ob „Trainspotting“ oder „Ecstasy“, genauso vital, vielstimmig und laut wie sein Vortrag waren schon immer seine Bücher. Und die Themen wirkten niemals gesucht. Sie entsprangen seiner Lebenswirklichkeit – seiner oder der seiner Freunde. Autor, Thema, Text und Inszenierung haben selten eine so schlüssige, beeindruckende, aber auch provozierende Einheit gebildet wie bei Welsh.

Wen wundert es, dass Terry, Billy, Andy und Carl, die Protagonisten seines neusten Romans „Klebstoff“ wie der 1958 geborene Welsh in der verrufenen Edinburgher Vorstadt aufgewachsen sind. Eine Welt, die nicht weiter entfernt sein könnte vom Image der Stadt Edinburgh als kulturelle Hochburg. Eine Welt, in der Gewalt, Perspektivlosigkeit und Drogen regieren, in der jede Form von Schwäche böse Folgen haben kann. Vier Dekaden lang verfolgt der Roman die tragische, gelegentlich amüsante, oft bewegende Geschichte der vier Helden, ihrer Saufkumpane und Familien. Terry, der Frauenverführer, der seit einem Job als Mineralwasserlieferant nie wieder ehrlich gearbeitet hat, aber auch als fetter Dreißigjähriger noch immer erfolgreich den Mädchen nachläuft. Billy, der emotionsarme Boxer, der sich von der Mafia kaufen lässt. Andy, der tragische, hübsche Junge, der dem AIDS-Tod zuvorzukommen versucht. Und Carl, der ruhige Schöngeist, der als Discjockey internationale Karriere macht.

„Ich bekomme die meisten Impulse für meine Romane von zu Hause“, erklärt Welsh. „Ich ziehe durch Edinburgh, schaue, was los ist und lasse mir Geschichten erzählen.“ Welsh ist ein Autodidakt der Arbeiterklasse, der einerseits zu clever ist, die Ersatzdrogen, die die britische Gesellschaft den einfachen Leuten bereit stellt (Alkohol, Fußball, Sex), nicht als solche zu durchschauen, andererseits seinen Wurzeln treu bleibt. Das zeigt sich an der derben Alltagssprache, die seinen Stil durchzieht, dem extremen schottischen Akzent, in dem er spricht, aber auch in gewagten Gewalt- und Sexszenen.

Verpfeife niemals weder Freund noch Feind, schlage keine Frauen, stehe stets zu Deinen Freunden, kauf’ dir jede Woche ’ne neue Platte – so die wichtigsten Gebote des Ehrenkodex der Edinburgher Beinahe-Slums, nach dem die Jugendlichen in „Klebstoff“ zu leben versuchen. Aus wechselnden Perspektiven erzählt Welsh im Slang seiner Protagonisten vom Schattendasein zwischen Pub, Maloche, Droge, Diebstahl und Sex, von Ausbruchsversuchen und Rückkehrern, von Verletzlichkeit und Maskenhaftigkeit in Männerfreundschaften. Alle vier häufen Schicksalsschläge an, werden betrogen, betrügen selbst, werden beraubt und berauben selbst, wenn sie nicht gerade saufen oder Pillen einschmeißen.

Kein Zweifel, so wie Welsh kann nur jemand schreiben, der den Alltag ganz genau kennen gelernt hat – der aber auch etwas von den traditionellen Qualitäten guter Literatur versteht: faszinierende Dialoge, mitreißende Plots, vielschichtige Figuren. „Die Charaktere müssen leben“, meint Welsh. „Man darf sie beim Schreiben niemals richten, auch wenn sie Arschlöcher sind.“ Vielleicht der Grund, warum Welsh Figuren schuf, mit denen sich eine ganze Generation europäischer Jugendlicher identifizieren konnte: Renton, Sick Boy, Spud und Begbie, die (Anti-)Helden aus „Trainspotting“ zum Beispiel, die in „Klebstoff“ als Nebenfiguren wiederkehren.

„Klebstoff“ spannt einen Bogen von den 70ern bis in das neue Jahrtausend – von Punk zu Techno, von Speed zu Ecstasy – und zeigt einen Irvine Welsh in Höchstform: die multiple Perspektive und geschickt konstruierte thematische Leitfäden erlauben es Welsh, trotz der gewaltigen Stoffmenge, Tempo und Spannung bis zum Schluss der über 600 Seiten zu halten. Sein Anspruch ist gestiegen – und er mit ihm gewachsen.

Textauszug:

„Diese Eckys, die Rolf besorgt hat, sind absolut spitze. Man kann gutes E immer daran erkennen, wie schnell die Nacht verfliegt, aber als die Musik tatsächlich abbricht und von einem ärgerlichen Aufstöhnen abgelöst wird, denk ich, das ist ja lächerlich, so gut waren sie auch wieder nicht. Trotz der Eckys arbeitet mein Verstand langsam (wahrscheinlich die Sauferei), und es dauert nen Moment, bis mir dämmert, dass meine eigenen Worte sich als etwas zu prophetisch erwiesen haben, denn es pflügen sich Uniformierte durch die tanzende Menge zu den Plattenspielern.

Die Bullen sind ziemlich rabiat und wollen, dass wir verschwinden. Terry brüllt irgendwas, mit dem einzigen Ergebnis, dass sich die Deutschen zu ihm umdrehen und die Fotze verblüfft anstarren. Rolf sagt zu mir: – Du solltest deinem Freund sagen, dass in diesem Land nur wenig damit erreicht werden kann, wenn man sich die Polizei zum Feind macht.

Ich will ihm gerade sagen, dass das in unserem Land genauso ist, wir uns davon aber nicht bremsen lassen, als ich kapiere, dass die Jungs so cool bleiben, weil im Programm auch ein Plan B vorgesehen ist. Es stimmt, egal wo man sich mit der Bullerei anlegt, es gibt immer bloß einen Gewinner.“

Markus Kuhn

Irvine Welsh: Klebstoff.Roman. KiWi 2002. Taschenbuch, 624 Seiten, 12,90.